9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Politik

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9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.05.2024 - Politik

Die HU-Professorin Manuela Bojadzijev, Mitunterzeichnerin des Dozentenaufrufs gegen die Polizeieinsätze an Berliner Unis, verteidigt die Studierendenproteste und ruft zum Dialog auf. Der bayrische Wissenschaftsminister Markus Blume hält ihr im Streit-Gespräch mit Mark Schieritz und Anna-Lena Scholz in der Zeit entgegen: "Meinungsfreiheit ist nicht grenzenlos". Bojadzijev beteuert, selbst "nie antisemitische Ausbrüche" erlebt zu haben und will auf pädagogische Mittel setzen: "Mich interessiert, was Studierende denken, warum sie zu bestimmten Parolen greifen. Meine Aufgabe ist zu verstehen: Warum sagen sie so etwas? Dann kann ich immer noch widersprechen. Glauben Sie mir, in den Seminaren wird vieles dahergesagt, auch Rassistisches, Sexistisches, die absurdesten Behauptungen. Da hilft es mir doch nicht, die Polizei zu rufen, da muss ich diskursiv intervenieren…" Blume weist daraufhin, dass sich nichtsdestotrotz jüdische Studierende an der Uni nicht mehr sicher fühlen würden und hält ihren Ansatz angesichts von "From the river to the sea"-Rufen und Forderungen nach einem Israel-Boykott für "naiv": "Wir reden ja hier nicht über eine nette Gesprächsrunde im Seminarraum, sondern über organisierte, extremistische Protestformen bis hin zu Gewaltaufrufen. Da bekomme ich wirklich Gänsehaut."

In der Nacht zum 14. Mai wurde das Holocaust-Mahnmal in Paris geschändet - ein "weiterer zynischer Dreh in der Eskalationsdynamik", kommentiert Sandra Kegel in der FAZ. Ausgerechnet am Jahrestag der ersten Massenverhaftungen jüdischer Bürger in Paris, sprayten Unbekannte rote Hände (ein Symbol, das mit den Schrecken der zweiten Intifada verbunden ist, erinnert Kegel) unter die Namen derjenigen, die während der NS-Zeit jüdischen Bürgern halfen.

In der Zeit zeichnen Amrai Cohen und Jan Ross die Geschichte der Freundschaft zwischen den USA und Israel nach, die in diesen Tagen zum ersten Mal in einer Krise steckt. Doch der Streit über die Militäroffensive in Rafah, vor der Joe Biden den israelischen Premier ausdrücklich gewarnt hat, ist grundlegender, meinen die Autoren: "Die USA setzen ihre Hoffnungen auf eine große regionale Neuordnung, und damit die Neuordnung eine Chance bekommt, muss aus Washingtoner Sicht erst einmal der Krieg in Gaza aufhören und mittelfristig ein Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern einsetzen. Ein Sieg über die Hamas wird aus dieser Perspektive zu einem nachrangigen Thema. Zum einen glaubt die amerikanische Regierung nicht daran, dass ein solcher Sieg möglich ist: Außenminister Antony Blinken wies kürzlich darauf hin, dass die Terrormiliz offenbar in bereits von den Israelis eroberte Gebiete des Gazastreifens zurückkehre und dass selbst nach einem Großangriff auf Rafah Tausende von Hamas-Anhängern übrig bleiben würden …" Netanjahu wolle zwar ebenfalls ein israelisch-arabisches Bündnis gegen den Iran, "und eine Aussöhnung mit Saudi-Arabien wünscht er sich als persönliches Vermächtnis. Doch die Hamas deswegen halbwegs überleben lassen und den Palästinensern die Aussicht auf einen Staat eröffnen - das will Netanjahu nicht."

Soll Europa eine Nuklearmacht werden? Wie steht es mit der "Abschreckung"? Der Historiker Bernd Greiner hält von solchen Überlegungen nichts, wie er in der FAZ schreibt, entsprächen sie doch einer "Logik aus der politischen Steinzeit". Die übliche Argumentation laute: "Abschreckung hat seit fast achtzig Jahren den Frieden gesichert. Überzeugen kann der Hinweis nicht. Denn der Feind, der vermeintlich nur durch Abschreckung im Zaum gehalten wurde, hatte bei Lichte besehen überhaupt keine Gelüste, einen Krieg vom Zaun zu brechen. Heute hat man es zugebenermaßen mit weniger kalkulierbaren Akteuren zu tun. Aber Unkalkulierbarkeit mit einer Strategie zu begegnen, die ihrerseits nicht gänzlich kalkulierbar sein darf, um überhaupt Erfolg zu haben, ist eine merkwürdige Form politischer Logik."

Im NZZ-Interview mit Marco Kauffmann Bossart spricht der tibetische Exil-Regierungschef Penpa Tsering über die Pläne Chinas, Tibets Kultur dem kommunistischen Ideal anzugleichen. "Chinas Führung zielt darauf ab, die Identität der verschiedenen Nationalitäten zu zerstören; insbesondere in Tibet. Es wurden Internate eingerichtet, in denen alles auf Mandarin unterrichtet wird. Die Tibetisch-Lektionen wurden auf nur vier Stunden pro Woche reduziert. Die Aufnahmeprüfungen an den Universitäten und die Prüfungen für chinesische Arbeitsplätze sind alle auf Chinesisch. So wird der Wert der Landessprachen verringert und damit das Fundament der nationalen Identität geschwächt." Trotzdem fordert Penpa Tsering und mit ihm der Dalai Lama keine Unabhängigkeit von China ein. "Wir streben keine Unabhängigkeit an. Aber trotzdem bezeichnet die chinesische Regierung den Dalai Lama immer wieder als Separatisten. Auch mich nennen sie einen Separatisten. Meine Frage an die chinesische Regierung lautet: Wer will sich von China trennen? Seine Heiligkeit wiederholt wie ein Mantra: Mittelweg, Mittelweg, Mittelweg. Und die Chinesen rufen: Separatist, Separatist, Separatist!"

9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.05.2024 - Politik

Wie könnte ein "Nachkriegsgaza" aussehen und gibt es realistische Pläne dafür, fragt Steffi Hentschke auf Zeit Online. Letzte Woche wurde von US-Sicherheitsexperten erstmals ein Konzept vorgestellt, so Hentschke. Es heißt darin, Gaza müsse "international verwaltet" werden, dabei käme weder Israel als Verwaltungsmacht in Frage noch die UN. Laut des Plans sollen die arabischen Länder und Golfstaaten beteiligt sein - die Situation ist allerdings kompliziert, erinnert Hentschke: "Die arabischen Staaten erhalten durch ihr Zugehen auf Israel wirtschaftliche Vorteile, aber auch Sicherheitsversprechen der USA, vor allem im Kampf gegen das iranische Regime. Gleichzeitig entfernen sie sich damit von der sogenannten palästinensischen Sache − dem Bemühen der Palästinenser um einen eigenen Staat. Die Hamas soll mit ihrem Angriff am 7. Oktober auch versucht haben, Israels aufkeimende Beziehungen, vor allem zu Saudi-Arabien, zu zerstören. Nach dem ersten direkten Angriff des Iran auf Israel im April soll Riad die Vereinigten Staaten und Israel mit Geheimdienstinformationen unterstützt haben, berichtete das Wall Street Journal. Diese Meldung bestätigten die Saudis nicht. Das zeigt, wie wenig realistisch eine schnelle und vor allem offiziell kommunizierte Lösung für den Gazastreifen ist."
Stichwörter: Gaza, Israel Hamas, Golfstaaten

9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.05.2024 - Politik

Wenn man zynisch wäre, könnte man sagen: Im Gaza-Krieg sterben immer weniger Menschen. Die UNO hat jedenfalls die Opferzahlen des Konflikts erheblich nach unten korrigiert, auch wenn das in den Medien bisher noch kein großes Echo auslöste. Im proisraelischen Jewish News Syndicate werden die neuen offiziellen Opferzahlen referiert: "Am vergangenen Mittwoch veröffentlichte das UN-Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) aktualisierte Zahlen zu den Opfern. Demnach starben bis zum 30. April 7.797 Kinder im Gazastreifen - ein Rückgang von etwa 42 Prozent gegenüber den Zahlen von Mitte März. Auch die Zahlen für Frauen wurden um fast die Hälfte reduziert - von mehr als 9.500 auf weniger als 5.000." In diesem Video einer Pressekonferenz nimmt Farhan Haq, der stellvertretende Sprecher des UNO-Generalsekretärs Stellung zu den Zahlen: "Im Nebel des Krieges ist es schwierig, Zahlen anzugeben." Mehr hier in der Jerusalem Post und hier bei franc-tireur.fr. Auch die taz berichtet.

Buch in der Debatte

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In einem längeren FR-Interview mit Michael Hesse hält der Politologe Wolfgang Kraushaar, dessen aktuelles Buch "Israel: Hamas - Gaza - Palästina" wir vorgeblättert haben, die aktuellen Proteste an den Universitäten nicht für "pauschal" antisemitisch, vielmehr glaubt er, dass sich in deren Folge einiges ändern wird. In den USA und auch in der EU habe "sich die Einsicht durchgesetzt, dass man solange keine pauschale Solidarisierung mit Israel praktizieren kann, solange man es mit einer illiberalen Regierung zu tun hat, in der Rechtsradikale mit am Kabinettstisch sitzen. Die Bundesregierung versucht sich diesem Problem gegenüber wegzuducken. Bundeskanzler Scholz ist nach dem 7. Oktober sofort Angela Merkel gefolgt und hat sich darauf berufen, dass die Existenzsicherheit Israels Teil der deutschen Staatsräson sei. (…) In unserem Grundgesetz kommt der obrigkeitsstaatlich aufgeladene Begriff der Staatsräson bezeichnenderweise nicht vor. Zudem ist es eine offene Frage, ob man die Sicherheit eines anderen Staates überhaupt zum Bestandteil der eigenen Staatsräson machen kann. Und wenn es wirklich Ernst mit der Existenzbedrohung Israels würde, dann müsste das ja eine militärische Beistandspflicht zur Folge haben. Wenn etwa der Iran Israel ernsthaft angreifen würde, dann wäre es wohl die Aufgabe der Bundeswehr Israel militärisch beizustehen. Was das bedeutet, vermag sich hierzulande aber offenbar niemand so recht vorstellen zu wollen, weshalb sich die Politik im Hinblick auf solche Konkretisierungen auch lieber ausschweigt." Welche Konsequenzen es hätte, Israel die Solidarität zu verweigern, sagt Kraushaar allerdings auch nicht.

Wenn das sozialistische Kuba jemals mit etwas punkten konnte, dann mit seiner fortschrittlichen Gesundheits-, Bildungs- und Sozialpolitik. Damit ist es inzwischen aber auch vorbei, erklärt in der taz der Politikwissenschaftler Knut Henkel: "Der Vorsprung bei den Sozialindikatoren, den Kuba lange gegenüber den USA hatte, ist dahin, und die Aussichten sind alles andere als positiv, so der kubanische Demograf und Ökonom Juan Carlos Albizu-Campos. Ein zentraler Grund dafür ist laut Experten die Covid-19-Pandemie, ein anderer die Erosion der Versorgung im Gesundheitssystem. Chronischer Medikamentenmangel, das Fehlen von OP-Bedarf, von Desinfektionsmitteln bis zur Bettwäsche ist in vielen kubanischen Kliniken heute Alltag. ... Kubanische Ärzte, aber auch Pflegepersonal machen sich genauso wie Fachpersonal aus sonstigen Sparten auf den Weg ins Ausland, weil sie von ihrem Lohn in Kuba nicht leben können. Die Schere zwischen Lebenshaltungskosten und Löhnen klafft von Monat zu Monat immer weiter auseinander. Der Mindestlohn von 2.100 Peso cubano reicht gerade, um sich sechs Pfund Bohnen oder drei Pfund Schweinefleisch zu kaufen. Davon sind auch Besserverdiener wie Ärzte, die zwischen 5.000 und 10.000 Peso cubano verdienen, betroffen. Die Frage nach der persönlichen Perspektive auf der Insel wird immer öfter mit: no hay, gibt es nicht, beantwortet."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.05.2024 - Politik

Im Tagesspiegel-Gespräch mit Kai Müller und Anja Wehler-Schöck teilt der amerikanische Demokratieforscher Thomas Carothers seine Einschätzung zu den pro-palästinensischen Studentenprotesten in den USA. Die Demonstrationen könnten durchaus einen Einfluss auf die Wahlen haben, meint er. Zwar glaube er nicht, "dass die USA von ihrer grundsätzlichen Unterstützung für Israel abweichen werden. Aber US-Präsident Joe Biden und sein Team nehmen die Proteste durchaus ernst. Als er sich vergangene Woche dazu äußerte, zog er eine Grenze zwischen Demonstrationen, die legitim seien, und radikalen und gewalttätigen Aktionen, die Chaos stifteten. Ich sehe hier zweierlei Effekte auf den Wahlkampf. Zum einen, dass pro-palästinensische Menschen nicht für Biden stimmen. Das ist gefährlich bei einer Wahl, die so eng werden kann. Zum anderen, dass Bilder der Proteste von Bidens Gegnern genutzt werden, um den Präsidenten zu schwächen. Also zu suggerieren, dass das Land im Chaos läge und Biden die Kontrolle verloren habe."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.05.2024 - Politik

Buch in der Debatte

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Der an der Columbia University lehrende amerikanisch-palästinensische Historiker Rashid Khalidi hat gerade das Buch "Der Hundertjährige Krieg um Palästina" veröffentlicht. Im großen FR-Gespräch mit Hanno Hauenstein teilt er aus: Die Proteste an amerikanischen Universitäten seien keineswegs antisemitisch, findet er. Israel verurteilt er als "siedlungskoloniales Projekt". Außerdem müssten die Israelis Verhandlungen mit der Hamas führen, die sei schließlich demokratisch gewählt worden: Die Hamas habe von der windelweichen PLO "Die Fackel des bewaffneten Kampfes" übernommen. "Hätte die PLO erreicht, was sie anstrebte - einen palästinensischen Staat auf einem winzigen Teil von etwa 20 Prozent Palästinas - dann gäbe es die Hamas heute nicht. Die Hamas hat sich diesem Prozess widersetzt und war erfolgreich, auch weil ein unabhängiger, souveräner palästinensischer Staat im Rahmen des Oslo-Prozesses unter keinen Umständen verwirklicht werden konnte. Dieser Prozess führte zu einer Verstärkung der israelischen Besatzung und Kolonisierung, zu einer Verelendung des palästinensischen Volkes, zu einer Zerstückelung des Westjordanlandes in kleine Bantustans. Das ist es, was die Hamas zur Volksbewegung gemacht hat."

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Die antizionistische Welle an Universitäten und in den (sozialen) Medien überrascht die in der DDR aufgewachsene Autorin Mirna Funk, aktuelles Buch "Von Juden lernen", in der Welt nicht: "Im guten alten Kalten Krieg (…) hatten sich die Sowjets nämlich radikal dem Anti-Zionismus verschrieben und wollten durch Allianzen mit der arabischen Welt ein Gegengewicht zu den USA schaffen. Am Anfang, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, war die Sowjetunion allerdings noch zionistisch und positiv gegenüber Israel eingestellt. Was daran lag, dass - und jetzt müssen alle auf beiden Seiten ganz stark sein - Israel ein sozialistischer Staat war. Im Übrigen blieb er das bis Anfang der Achtzigerjahre. (…) Als dann aber Israel im Laufe der Zeit stärker mit den USA kooperierte, platzte den Sowjets der Kragen. Sofort war Schluss mit lustig, und die israelischen Genossen waren keine Genossen mehr, sondern nur noch eine 'retrogressive nationalistische Bourgeoisie' und 'wurzellose Kosmopoliten'. Ganz besonders schlimm wurde es dann ab 1967. Sechstagekrieg. Da hatten die schwachen, muskellosen Juden doch plötzlich in Windeseile die arabischen Armeen niedergemäht, weil sie sich nicht ihrem imperialistischen Traum unterwerfen wollten. Na, so was! Da flippten sogar die Deutschen direkt aus. Wenn man sich Spiegel-Cover aus der Zeit anschaut, dreht sich einem der Magen um. Denn sich gegen Imperialismus wehren, das dürfen Juden nicht."

In der NZZ erinnert der amerikanische Historiker Andrew Preston indes an die ebenfalls an der Columbia University stattfindenden Proteste gegen den Vietnamkrieg im Jahr 1968, in deren Folge Präsident Lyndon B. Johnson zurücktrat. Für Preston sind die Parallelen zu heute offenkundig: "Wie 1968 spiegeln die heutigen Unruhen auf den Universitätsgeländen auch einen Konflikt innerhalb der amerikanischen Linken und Progressiven wider. Auf der einen Seite sind die Proteste eine linke Form der Gegenreaktion auf die anfänglich unbeirrte Unterstützung Israels durch einen demokratischen Präsidenten. Israel ist ein wichtiger strategischer Verbündeter der USA, und die Unterstützung des jüdischen Staates ist spätestens seit den 1960er Jahren fester Bestandteil der Demokratischen Partei. Damals unterstützte Lyndon Johnson das Land während des Krieges von 1967, bei dem das Westjordanland und der Gazastreifen unter israelische Kontrolle kamen. Doch trotz der jahrzehntelangen Unterstützung stehen die meisten heutigen Demokraten den derzeitigen israelischen Kriegsanstrengungen kritisch gegenüber und fordern einen sofortigen Waffenstillstand - unabhängig davon, was mit der Hamas geschieht."

Zur gleichen Zeit, als der Iran Israel angriff, erhöhte die iranische Regierung den Druck auf Frauen, die sich weigern, das Kopftuch zu tragen, berichtet Friederike Böge in der FAZ. "Es war der Beginn einer neuen Kampagne, die bis heute anhält. Der Sicherheitsrat hat sie 'Projekt Licht' getauft. Laut dem Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte gab es 'umfangreiche Festnahmen und Belästigungen von Frauen und Mädchen - viele von ihnen zwischen 15 und 17 Jahre alt'. An dem 'brutalen Vorgehen' seien Uniformierte und Polizisten in Zivil beteiligt. Auch Überwachungskameras würden eingesetzt. Zudem seien Hunderte Geschäfte und Unternehmen geschlossen worden, weil sie Frauen ohne Kopftuch bedient oder beschäftigt haben sollen. In den Monaten zuvor hatte sich die Sittenpolizei aus Sorge vor wütenden Reaktionen der Bevölkerung weitgehend zurückgehalten. ... Frauen in Teheran berichten am Telefon von einer neuen Atmosphäre der Angst. Eine Sprachwissenschaftlerin, die aus Sicherheitsgründen nicht namentlich genannt werden will, erzählt von einer Freundin, die von der Sittenpolizei gezwungen wurde, immer wieder den Satz 'Das Blut in unseren Adern ist ein Geschenk an unseren Führer' zu wiederholen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.05.2024 - Politik

Im Tagesspiegel-Gespräch nimmt Völkerrechtler Kai Ambos Stellung zum Apartheidsvorwurf gegenüber Israel, zu dem er auch kürzlich ein Buch veröffentlicht hat. "Objektiv spricht viel dafür, dass Israel ein Apartheidsystem im völkerrechtlichen Sinne unterhält." Es komme allerdings darauf an, ob man über Israels Grenzen von 1948 oder 1967 spricht. "Amnesty International wirft Israel ausnahmslos Apartheid seit der Staatsgründung vor, womit der Staat gleichsam zum Apartheidprojekt wird. Das halte ich für zu weitgehend. Ich beziehe mich nur auf die Zustände in den besetzten Gebieten, insbesondere im Westjordanland." Ambos kritisiert außerdem die Ausladung einiger Protagonisten der Israelkritik für den abgebrochenen Berliner Palästina-Kongress vor ein paar Wochen (Unsere Resümees).

9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.05.2024 - Politik

"Gäbe es die Hamas nicht, wäre keiner dieser Menschen tot", sagt der Antisemitismusforscher Jeffrey Herf im Gespräch mit Jonathan Guggenberger von der taz, "Die Hamas hat vierzig Jahre lang klar und unverblümt gesagt, was sie mit Juden tun wird. In diesen vielen Jahren erhielten ihre Drohungen nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdienten." Herf schildert in seinem neuesten Buch die drei Spielarten des Antisemitismus von links, rechts und von islamistischer Seite. Spätestens seit dem 7. Oktober hat sich für ihn eine unentwirrbare Mischung der drei Strömungen gezeigt: "Menschen, die sich selbst als links oder liberal betrachten, nehmen eine Organisation billigend in Kauf, die ihre Wurzeln in einer Mischung aus religiösem Fundamentalismus und dem Vernichtungsantisemitismus der Nazis hat. Die Hamas ist eine Bewegung der extremen Rechten: Ihre Auslegung der islamischen Religion ist islamistisch, ihre entsetzlichen Ansichten über Frauen, Queers, Juden und natürlich über die Demokratie sind rechts. Warum also machen sich junge Linke unkritisch für sie stark? Nun, sie definieren Israel als einen rassistischen Staat. Wer gegen Israel kämpft, muss also auf der richtigen Seite stehen."

Die Journalistin und Medienwissenschaftlerin Charlotte Misselwitz, mit einem jüdischen Israeli verheiratet, versucht ebenfalls in der taz eine mittlere Position zu beziehen. Eigentlich zähle sie sich zur "Ja,aber"-Fraktion: "Die Gewalt der Hamas war unverhältnismäßig, ja. Aber: Auch die Gewalt der Israelis in den vorherigen Kriegen in Gaza, ebenso wie im Jetzigen, ist unverhältnismäßig. Dieses 'Ja, Aber' kann ich nicht abstellen." Und dann das zweite Aber: Sie bekennt auch ihre Angst, "dass selbst die Progressiven im propalästinensischen Camp kein Zusammenleben mehr wollen. Dass sie die Hamas vielleicht doch gut finden." Und dann wieder ja, aber: "Ja, da ist das Sicherheitsbedürfnis der Israelis nach der Hamas-Attacke, da ist das Bedürfnis, die Täter bestraft zu sehen. Aber, da ist auch die Schuld angesichts der massiven zivilen Verluste durch diesen Krieg, das Wissen, dass auch dieser Krieg kaum mehr als Zerstörung bringt - und nicht die Zerstörung der Hamas. Da sind die viel höheren Todeszahlen in Gaza, der anhaltende Terror. Dann wieder gibt es die traumatischen Erinnerungen an die Pogrome, den Holocaust. Eigentlich müssten wir alle, im Herzen gebrochen, ein Ende der Gewalt fordern. Warum ist das nicht so?"

Außerdem: Patrick Bahners begrüßt in der FAZ ein neues amerikanisches Gesetz, das die Antisemitismusdefinition der "International Holocaust Remembrance Alliance" (IHRA) in Antidiskriminierungsklauseln übernimmt - obwohl ihm die Definition der "Jerusalemer Erklärung", die den Wunsch, Israel auszulöschen, als "nicht per se" antisemitisch definiert, womöglich noch lieber gewesen wäre.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.05.2024 - Politik

Die Debatte um Abtreibungsrechte wird einer der entscheidenden Faktoren der amerikanischen Wahlen 2024 sein, prophezeit die Amerika-Expertin Annika Brockschmidt in der taz. Das Dumme ist, dass die Republikaner hier in einem Zwiespalt sind, denn die Verbotsträume der Extremisten sind so radikal, dass sie sogar die republikanischen Wählerinnen abschrecken. Um die Debatte um ein Verbot zu umgehen, könnte man aber ein uraltes Gesetz wiederbeleben, so Brockschmidt: "Als 'Comstock Act' werden eine ganze Reihe von Gesetzen bezeichnet, die nach Anthony Comstock, einem religiösen Fanatiker, benannt sind. Der 'Comstock Act' verbietet den Versand 'obszöner' Materialien per Post. (...) Führende Stimmen der amerikanischen Rechten wollen den Comstock jetzt anwenden, um den Versand von Abtreibungspillen zu verbieten. Einer von ihnen ist Jonathan Mitchell, bis 2015 Republikaner-Generalanwalt von Texas, seitdem eine führende Stimme des juristischen Flügels der amerikanischen Rechten und Autor des drakonischen Abtreibungsverbots aus Texas von 2021, das auf Helfer ein Kopfgeld von 10.000 Dollar ausgesetzt hat. Er erklärte laut der New York Times: 'Wir brauchen kein landesweites Verbot, wenn wir Comstock haben.'"

Total sauer ist der Iran über die BBC-Dokumentation "Nika' Last Breath", die  erzählt, wie die 16-jährige Nika Schakarami im Kontext der "Frau Leben Freiheit"-Proteste gegen den Kopftuchzwang von der Sittenpolizei vergewaltigt und ermordet wurde. Laut einem dpa-Ticker in der FAZ plant die "iranische Staatsanwaltschaft juristische Schritte. Nach Angaben der Tageszeitung Shargh hat die Staatsanwaltschaft iranische Journalisten und Aktivisten, die den BBC-Bericht veröffentlicht oder im Internet gepostet haben, vorgeladen. Auf ihrem Webportal Mizan bezeichnete die Justiz den Bericht als 'große Lüge', mit der die BBC ihren internationalen Kredit verspielt habe.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.05.2024 - Politik

Der israelische Historiker Dror Wahrman macht sich in einem "Brief aus Israel" in der FAZ große Sorgen um die israelische Gesellschaft. Seit dem 7. Oktober und angesichts des fortdauernden Krieges schwinde der Zusammenhalt immer mehr, die Fronten verhärteten sich. Auch wenn viele es nicht wahrhaben wollen, meint Wahrmann, es stellt sich die bittere Erkenntnis ein, dass "Israel im Begriff ist, den Krieg zu verlieren. Wir sind - trotz der mantraartig verkündeten Parole des 'Vereint werden wir siegen' - nicht vereint, und ein Sieg ist nicht in Sicht… Der bemerkenswerte Erfolg beim Abfangen der Raketen und Drohnen, der ein altes Selbstbild von Mut und Tatkraft evoziert, kann die neue Existenzangst nicht schmälern. Nach Jahrzehnten, in denen jede Regierung die Bürger mit der Versicherung ruhigstellte, die Bestrebungen und Rechte der Palästinenser könnten auf alle Zeit ignoriert werden, vermag nur eine schmerzhafte Einsicht in die Grenzen militärischer Macht eine radikale Neuorientierung hinsichtlich der langfristigen politischen Lösungen herbeizuführen. Die Weltgemeinschaft sollte Israel dabei unterstützen - freundlich, aber streng."

Ebenfalls in der FAZ gibt Frauke Steffens einen Überblick über die Ereignisse auf dem Campus der Columbia-Universität, wo in der Nacht zum ersten Mai die Protest-Camps pro-palästinensischer Studierender von der Polizei geräumt wurden. Von vielen Seiten wird diese Entscheidung der Universitätspräsidentin Minouche Shafik kritisiert und als zu harsch verurteilt. Auf der anderen Seite stehen die Proteste wegen antisemitischer Losungen in der Kritik (unser Resümee): "Gestritten wird darüber, wie repräsentativ etwa ein Sprechgesang ist, der in der vergangenen Woche vor den Mauern des Columbia-Campus zu hören war: 'Hamas, mach uns stolz'. ... Allerdings tauchte von Khymani James, der anfangs als offizieller Vertreter der Studenten mehrere Pressekonferenzen gegeben hatte, ein Video auf, in dem er Juden aufs Übelste beschimpfte und sagte: 'Zionisten verdienen zu sterben.'"

Erleben die USA einen neuen "Vietnam-Moment" fragen Lukas Hermsmeier, Kerstin Kohlenberg, Maximilian Probst und Anna Sauerbrey angesichts der massiven Studentenproteste an der Columbia-University, aber auch an vielen weiteren Universitäten im Land? Vor allem die Studierenden selbst ziehen den Vergleich zu den 1968er-Protesten gegen den Vietnam-Krieg, so die Autoren, der hinkt allerdings unter anderem angesichts der antisemitischen und gewaltverherrlichenden Slogans, die skandiert werden. Für die Demokraten und Joe Biden könnten die Proteste allerdings zum Verhängnis werden: "Die Studenten beschimpfen ihn als 'Genocide Joe'. Überall, wo er auftaucht, ob auf einer Spendenveranstaltung in New York oder der großen jährlichen Veranstaltung der politischen Korrespondenten in Washington am Wochenende, wird demonstriert. ... Die Republikaner nutzen die Lage."

Israel wird nicht (nur) aus antisemitischen Gründen von der Linken gehasst: Postkoloniale Linke können es einfach nicht ertragen, dass ein demokratischer Staat wie Israel auch mal Gewalt anwenden muss, um seine Bevölkerung zu schützen, argumentiert die Soziologin Gesa Lindemann in einem ausführlichen Beitrag auf Zeit Online. "Das Problem besteht darin, dass innerhalb der Linken nahezu durchgängig der sachliche Zusammenhang von Gewalt, Vergesellschaftung und Gesellschaftskritik verfehlt wird. Soweit ich sehe, gibt es keinen plausiblen Grund anzunehmen, dass gesellschaftliche Ordnung ohne Gewalt überhaupt möglich ist. Wenn man sich dieser Realität stellt, geht es nicht darum, wie eine gewaltfreie Ordnung erreicht werden kann, in der alle in Frieden leben, sondern wie Gewalt geordnet wird und welche normativen Implikationen verschiedene Arten, Gewalt zu ordnen, für die Gesellschaft haben. In der Bearbeitung dieser Frage hat die Linke versagt. (...) Gewalt richtet sich gegen den leidensfähigen individuellen menschlichen Körper, dessen Freiheit und Würde. Gewalt ist dabei grundsätzlich als ein, wenn nicht das Übel zu begreifen."

In der Zeit schildert der Schriftsteller Maxim Biller sein Zusammentreffen mit dem New-York-Times-Journalisten Jason Farago und macht deutlich, warum er solch ein Interview wohl nicht mehr führen wird: "Sechs Wochen später erschien Jasons Artikel. Das rätselhaft falsche Bild, das er von Deutschland zeichnete, war das einer philosemitischen Halbdiktatur, in der allein das Flüstern des Wortes 'BDS' zur völligen Entrechtung und bald auch Deportation führte, wo angeblich die ehemalige Ökoaktivistin Greta gecancelt war, was immer das hieß. The failing New York Times? Vielleicht. Naziporno? Bestimmt. Und von meiner lustigen Deborah-Feldman-Beschimpfung natürlich keine Spur! 'Das wird mir mein Redakteur niemals erlauben', hatte Jason beim Abschied zu mir im Hackeschen Hof traurig gesagt, bevor er draußen in einer riesigen Wolke von amerikanischen Touristen hoffentlich für immer aus meinem Leben verschwand."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.04.2024 - Politik

Moritz Pieczewski-Freimuth unterhält sich für hpd.de mit Emil Mink vom "Mideast Freedom Forum Berlin" (MFFB) über die Frage, warum die deutsche Politik oft nach wie vor eine so unscharfe Position zum iranischen Regime einnimmt und nicht mal einschlägige Organisationen als Terrororganisationen einstuft. Mink macht dafür unter anderem "Netzwerke regimetreuer Lobbyisten" in Thinktanks und regierungsnahe Organisationen mitverantwortlich: "Vergangenes Jahr hat eine Recherche des Oppositionssenders Iran International offen gelegt, dass 2014 während einer wichtigen Phase in den Verhandlungen um das Atomabkommen mit der Islamischen Republik ein regimetreues Netzwerk von Wissenschaftlern und Politikberatern ins Leben gerufen wurde, das die öffentliche Meinung in Nordamerika und Europa zu Gunsten des Regimes beeinflussen sollte. Zum Teil mit erheblichem Erfolg." Auch im Auswärtigen Amt habe das Netzwerk Einfluss - genauer wird Mink allerdings hier nicht.

Die Iraner wollen keinen Krieg gegen Israel führen, glaubt im Interview mit der taz der iranische Historiker Arash Azizi. Krieg sei viel zu unpopulär in der iranischen Bevölkerung. Ebenso wie die Unterdrückung der Protestbewegung, die wenige Stunden vor dem israelischen Raketenangriff auf Israel verstärkt wurde: "Seitdem gab es wieder viele Verhaftungen und Toomaj Salehi, der beliebte Rapper, wurde zum Tode verurteilt. Diese Einschüchterungstaktik ist besorgniserregend. ... Wie kann man Krieg gegen Israel und die iranischen Frauen am selben Tag beginnen?" Ingesamt seien die Iraner nicht besonders an den Palästinensern interessiert, meint Azizi: "Viele Iraner sind kritisch gegenüber der arabischen Welt. Sie sehen arabische Länder als traditionelle Rivalen Irans. Das Land wurde im siebten Jahrhundert von Arabern überfallen und hat eine sehr komplizierte historische Beziehung zu den arabischen Nachbarn. In der iranischen Gesellschaft gibt es wahrscheinlich mehr Feindseligkeit gegenüber Arabern als gegenüber Juden oder Israelis."

Der Krieg in Gaza spielt kaum jemandem so in die Hände wie dem Iran, meint der in Teheran geborene Schriftsteller Behzad Karim Khani in der SZ: "Netanjahus Koalition manövriert Israel mit ihrem Rache- und Vernichtungskrieg in Gaza derzeit immer weiter in die internationale Isolation und destabilisiert das Land auf eine Weise, wie es die Mullahs wohl niemals geschafft hatten." Dass das westliche "Klischee" vom "unberechenbaren" Iran nicht haltbar ist, dürfte "schnell auffallen, wenn man nur ein paar Beobachtungen macht und Fragen stellt: Weshalb hielt Iran in Russlands Tschetschenienkrieg dem Kreml die Treue, statt an der Seite seiner moslemischen Glaubensbrüder zu stehen? Warum finden in der iranischen China-Politik die moslemischen Uiguren nicht einmal Erwähnung? Warum unterstützte Iran im Konflikt zwischen dem schiitischen Aserbaidschan und Armenien die christlichen Armenier? Woher kommt die Nähe des Regimes zu den sozialistischen Ländern Venezuela oder Kuba, während doch Sozialisten in Iran verfolgt werden?"

Israel manövriert sich zunehmend in eine "Sackgasse", meinen auch Shimon Stein und Moshe Zimmermann in der FR: "Netanjahus Regierung blockiert - von einem Staat Palästina darf keine Rede sein, und die Autonomiebehörde käme nicht, auch wenn sie unter neuer Führung stünde, als Partner in Frage. Genau diese Haltung schuf ja die Situation, die den 7. Oktober möglich machte: Hamas auf Kosten der Autonomiebehörde starkzumachen."