9punkt - Die Debattenrundschau

Das Versprechen der Gewaltlosigkeit

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.05.2024. In der FAZ macht sich Dror Wahrman große Sorgen um Israel: Der Zusammenhalt in der Gesellschaft schwinde immer mehr. Der Campus der Columbia-Universität wurde geräumt - für die Demokraten könnten die Proteste zum Verhängnis werden, meint die Zeit. Auf Spon verteidigt Jürgen Zimmerer Claudia Roths Konzept für eine neue Erinnerungskultur. Postkoloniale Linke können es einfach nicht ertragen, dass ein demokratischer Staat wie Israel auch mal Gewalt anwenden muss, um seine Bevölkerung zu schützen, ruft Gesa Lindemann auf Zeit Online. Ein Polexit ist unwahrscheinlich, beruhigt Andrzej Leder in der FR.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.05.2024 finden Sie hier

Politik

Der israelische Historiker Dror Wahrman macht sich in einem "Brief aus Israel" in der FAZ große Sorgen um die israelische Gesellschaft. Seit dem 7. Oktober und angesichts des fortdauernden Krieges schwinde der Zusammenhalt immer mehr, die Fronten verhärteten sich. Auch wenn viele es nicht wahrhaben wollen, meint Wahrmann, es stellt sich die bittere Erkenntnis ein, dass "Israel im Begriff ist, den Krieg zu verlieren. Wir sind - trotz der mantraartig verkündeten Parole des 'Vereint werden wir siegen' - nicht vereint, und ein Sieg ist nicht in Sicht… Der bemerkenswerte Erfolg beim Abfangen der Raketen und Drohnen, der ein altes Selbstbild von Mut und Tatkraft evoziert, kann die neue Existenzangst nicht schmälern. Nach Jahrzehnten, in denen jede Regierung die Bürger mit der Versicherung ruhigstellte, die Bestrebungen und Rechte der Palästinenser könnten auf alle Zeit ignoriert werden, vermag nur eine schmerzhafte Einsicht in die Grenzen militärischer Macht eine radikale Neuorientierung hinsichtlich der langfristigen politischen Lösungen herbeizuführen. Die Weltgemeinschaft sollte Israel dabei unterstützen - freundlich, aber streng."

Ebenfalls in der FAZ gibt Frauke Steffens einen Überblick über die Ereignisse auf dem Campus der Columbia-Universität, wo in der Nacht zum ersten Mai die Protest-Camps pro-palästinensischer Studierender von der Polizei geräumt wurden. Von vielen Seiten wird diese Entscheidung der Universitätspräsidentin Minouche Shafik kritisiert und als zu harsch verurteilt. Auf der anderen Seite stehen die Proteste wegen antisemitischer Losungen in der Kritik (unser Resümee): "Gestritten wird darüber, wie repräsentativ etwa ein Sprechgesang ist, der in der vergangenen Woche vor den Mauern des Columbia-Campus zu hören war: 'Hamas, mach uns stolz'. ... Allerdings tauchte von Khymani James, der anfangs als offizieller Vertreter der Studenten mehrere Pressekonferenzen gegeben hatte, ein Video auf, in dem er Juden aufs Übelste beschimpfte und sagte: 'Zionisten verdienen zu sterben.'"

Erleben die USA einen neuen "Vietnam-Moment" fragen Lukas Hermsmeier, Kerstin Kohlenberg, Maximilian Probst und Anna Sauerbrey angesichts der massiven Studentenproteste an der Columbia-University, aber auch an vielen weiteren Universitäten im Land? Vor allem die Studierenden selbst ziehen den Vergleich zu den 1968er-Protesten gegen den Vietnam-Krieg, so die Autoren, der hinkt allerdings unter anderem angesichts der antisemitischen und gewaltverherrlichenden Slogans, die skandiert werden. Für die Demokraten und Joe Biden könnten die Proteste allerdings zum Verhängnis werden: "Die Studenten beschimpfen ihn als 'Genocide Joe'. Überall, wo er auftaucht, ob auf einer Spendenveranstaltung in New York oder der großen jährlichen Veranstaltung der politischen Korrespondenten in Washington am Wochenende, wird demonstriert. ... Die Republikaner nutzen die Lage."

Israel wird nicht (nur) aus antisemitischen Gründen von der Linken gehasst: Postkoloniale Linke können es einfach nicht ertragen, dass ein demokratischer Staat wie Israel auch mal Gewalt anwenden muss, um seine Bevölkerung zu schützen, argumentiert die Soziologin Gesa Lindemann in einem ausführlichen Beitrag auf Zeit Online. "Das Problem besteht darin, dass innerhalb der Linken nahezu durchgängig der sachliche Zusammenhang von Gewalt, Vergesellschaftung und Gesellschaftskritik verfehlt wird. Soweit ich sehe, gibt es keinen plausiblen Grund anzunehmen, dass gesellschaftliche Ordnung ohne Gewalt überhaupt möglich ist. Wenn man sich dieser Realität stellt, geht es nicht darum, wie eine gewaltfreie Ordnung erreicht werden kann, in der alle in Frieden leben, sondern wie Gewalt geordnet wird und welche normativen Implikationen verschiedene Arten, Gewalt zu ordnen, für die Gesellschaft haben. In der Bearbeitung dieser Frage hat die Linke versagt. (...) Gewalt richtet sich gegen den leidensfähigen individuellen menschlichen Körper, dessen Freiheit und Würde. Gewalt ist dabei grundsätzlich als ein, wenn nicht das Übel zu begreifen."

In der Zeit schildert der Schriftsteller Maxim Biller sein Zusammentreffen mit dem New-York-Times-Journalisten Jason Farago und macht deutlich, warum er solch ein Interview wohl nicht mehr führen wird: "Sechs Wochen später erschien Jasons Artikel. Das rätselhaft falsche Bild, das er von Deutschland zeichnete, war das einer philosemitischen Halbdiktatur, in der allein das Flüstern des Wortes 'BDS' zur völligen Entrechtung und bald auch Deportation führte, wo angeblich die ehemalige Ökoaktivistin Greta gecancelt war, was immer das hieß. The failing New York Times? Vielleicht. Naziporno? Bestimmt. Und von meiner lustigen Deborah-Feldman-Beschimpfung natürlich keine Spur! 'Das wird mir mein Redakteur niemals erlauben', hatte Jason beim Abschied zu mir im Hackeschen Hof traurig gesagt, bevor er draußen in einer riesigen Wolke von amerikanischen Touristen hoffentlich für immer aus meinem Leben verschwand."
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Europa

Vor zwanzig Jahren fand die Osterweiterung der Europäischen Union statt, unter anderem mit dem Beitritt von Polen, Slowenien, Tschechien und Ungarn. Doch der ganze Prozess geschah nicht ganz reibungslos und ging mit einer Gängelung von Seiten der "alten" EU-Staaten einher, meint Andreas Ernst rückblickend in der NZZ. "Das führte zu Ressentiments und antiliberalen Gegenschlägen. Nicht weil die Osteuropäer ihrer autoritären Vergangenheit nachtrauerten und mental 'noch nicht so weit' waren, wie westliche Kommentatoren schrieben. Sondern weil die von den Mentoren behauptete Alternativlosigkeit des eingeschlagenen Wegs viele Menschen enervierte. Solche Gefühle der Unterlegenheit hat der russische Angriff auf die Ukraine weggeblasen. Er hat die Stimmen der osteuropäischen Länder mit einem Schlag unüberhörbar gemacht. Denn es zeigte sich, dass etwa die Polen, Esten, Letten und Litauer viel früher verstanden, was jetzt auch Deutsche und Franzosen einsehen: dass Europa mehr sein muss als ein Markt, nämlich wehrhaft. Der Krieg hat den Schwerpunkt Europas weit nach Osten verschoben. Niemand würde mehr behaupten, dass dort Europäer zweiter Klasse leben."

Im Interview mit der FR glaubt der polnische Kulturphilosoph Andrzej Leder nicht an einen Polexit, also einen möglichen Austritt Polens aus der EU: "Denn zum einen wissen viele, dass bei einem EU-Austritt wir selbst die Gefahren Russlands abwehren müssten, die USA würden uns eher nicht retten. Die EU ist eine Form der Sicherung vor einem möglichen Krieg. Zum Zweiten aber wird es in Polen in den nächsten Jahren den erwähnten Generationenwechsel in der Politik geben. Für die neue Generation ist die EU eine Selbstverständlichkeit. Es dürfte also weniger eine Diskussion über einen Polexit geben als vielmehr darüber, in welcher EU wir sein wollen."

Der Vorwurf der "Russophobie", der von Putin-treuen Propagandisten gegen den Westen erhoben wird, dient lediglich Putins Machterhalt, meint der Politikwissenschaftler J. I. Szirtes in der NZZ. "Der ständige Vorwurf an das Ausland, 'russophob' zu sein, dient nicht nur dessen moralischer Abstempelung, es setzt es auch unter Rechtfertigungs- und Erklärungszwang. Dabei macht sich der Kreml die Xenophobie der einfachen Leute zunutze. Nach Meinungsumfragen unterstützen über vier Fünftel der Russen Putin, allerdings ohne über die Konsequenzen von dessen Politik genau im Bild zu sein. Die Mehrzahl der Menschen lebt auf dem Lande und hat Zugang ausschließlich zum regimehörigen Fernsehen. Sie lassen sich unschwer weismachen, dass ihre russische Lebensart bedroht sei, und entsprechend leicht kann Putin den beschützenden Zaren mimen, der sich um die Sorgen und Nöte der kleinen Leute kümmert."
Archiv: Europa

Kulturpolitik

In der Zeit diskutieren der Architekt Philipp Oswalt und der SPD-Politiker Wolfgang Thierse, der den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses mit vorangetrieben hat und auch dem Rat der Stiftung Preußischer Kulturbesitz angehört, über Oswalts Vorwürfe, für das Bauprojekt wären Spenden von Rechtsextremen akzeptiert worden (unser Resümee). Thierse betont die "aufklärerische Arbeit" des Humboldt-Projektes, die wichtiger sei als die Gesinnung weniger Spender: "Wir dürfen uns doch dadurch, dass Menschen aus falschen Motiven das Humboldt Forum loben, nicht beeinträchtigen lassen in der Arbeit für die kulturelle Zukunft unseres Planeten. Das würde ja eine geradezu gespenstische Lähmung hervorrufen." Oswalt hingegen attestiert den Verantwortlichen eine unreflektierte "Idealisierung des Preußentums": "Herr Thierse spricht von der Wiedergewinnung von Geschichte, damit meint er sicherlich die preußische Geschichte und das Kaiserreich, die Zeit vor 1918. Ohnehin scheint es in der SPD eine Sehnsucht nach diesen großen preußischen Symbolen zu geben, namhafte Parteimitglieder haben sich ja auch für die Wiedererrichtung der Potsdamer Garnisonkirche eingesetzt. …Was für ein Selbstverständnis wird da der heutigen Gesellschaft eingebaut?"

Auf Spon verteidigt der Historiker Jürgen Zimmerer, einer der Hauptvertreter der postkolonialen Idee, Claudia Roths umstrittenes Konzept für eine neue Erinnerungskultur (Unser Resümee): das Einbeziehen von Kolonialismus und migrantischen Standpunkten sei nur konsequent, meint er. "Deutschlands Erinnerungskultur steht seit Längerem vor einem Dilemma. Bei heutigen Schülerinnen und Schülern, an die sich viele Angebote der NS-Gedenkstättenarbeit richten, sind nicht einmal mehr die Großeltern im Zweiten Weltkrieg geboren und damit unmittelbar persönlich in die Verbrechen involviert - wenn diese Großeltern überhaupt im Gebiet des Deutschen Reiches lebten. Deutschland ist längst ein Einwanderungsland geworden, Migration Bestandteil vieler Familienbiografien. (...) Als eine der zentralen Lehren aus dem Rassenwahn der Deutschen ergab sich die Absage an jegliches völkisches Konzept von Deutschsein. Auch deshalb ist das Konzept aus dem Hause Roth so wichtig. Denn es erkennt die Migrationserfahrungen in Deutschland an und bringt sie in einen erinnerungspolitischen Zusammenhang mit den Verbrechen des Nationalsozialismus. Eine offizielle Würdigung der Migrationsgeschichte als Teil einer neuen, post-völkischen deutschen Identität ist eine Überwindung des nationalsozialistischen Wahns an zentraler Stelle."
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Religion

In der taz winkt der Islamismus-Experte Patrick Möller ab angesichts der Überraschung über eine Demo in Hamburg, bei der die Gruppe "Muslim Interaktiv" aus dem Umfeld der islamistischen Hizb ut-Tahrir (die unter anderem ein globales Kalifat anstrebt) mehr als tausend Menschen mobilisieren konnte. Die Gruppe ist bekannt, meint er, ähnliche Demos gab es in der Vergangenheit immer wieder - er glaube auch nicht, dass die Gruppe in großem Stil Zulauf bekommen werde. Allerdings sorge die deutsche Berichterstattung über den Gaza-Krieg, die er zu israelfreundlich findet, auch bei integrierten Muslimen für einen "massiven Vertrauensverlust": "Es dauerte in den deutschen Medien lange, bis über mutmaßliche Kriegsverbrechen berichtet wurde, etwa über Videos, die zeigen, wie israelische Soldaten Wohnungen plündern und feixend mit Damenunterwäsche posieren und Palästinenser verhöhnen. ... Aus meiner Sicht erodiert seit Oktober 2023 das Vertrauen in die deutsche Politik in erschreckendem Ausmaß - und viele wenden sich ab. Das ist der wahre gesellschaftliche Sprengstoff. Und dann wird es manche Muslime geben, die auf die einfachen Botschaften der Hizb ut-Tahrir und anderer Extremisten hören werden."
Archiv: Religion
Stichwörter: Islamismus, Hamburg, Gazakrieg, Kalifat

Ideen

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Warum liest man? Um Grenzen zu überschreiten, meint die Literaturwissenschaftlerin Melanie Möller, die sich in ihrem Buch "Der entmündigte Leser" gegen Praktiken wie Sensivity-Reading oder Trigger-Warnungen wendet, im Zeit-Gespräch mit Alexander Cammann: "Es wird heute so viel von Vielfalt gesprochen - rückwirkende Normierung aber bedroht Vielfalt in der Literatur existenziell. Ich wollte all das zeigen aus der schöpferischen Hölle, was durch Triggerwarnungen und als Modernisierung getarnte Umschreibungen verloren gehen könnte: das Obszöne, Drastische zum Beispiel und, ja, auch das Verletzende, das eben auch zur Kunst gehört." An die gesellschaftliche Wirksamkeit des Umschreibens glaubt sie "ganz und gar nicht": "Erst recht nicht, wenn ich mich da draußen so umschaue: Nur weil ein paar Politiker und Akademiker jetzt verstärkt auf Sprache achten, soll die Welt besser werden? Umgekehrt glaube ich, dass das Böse, das Ungerechte, das Verletzende einen Platz haben muss, weil es sich sonst irgendwo sammelt und explodiert. Denn das Terroristische im Menschen wird sich nicht unterdrücken lassen - zum Glück haben wir dafür die Räume der Fantasie, die Kunst, die Literatur."
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