9punkt - Die Debattenrundschau

Feiern, verdammen, hinterfragen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.06.2024. Der Osten wird sich dem Westen nicht weiter angleichen, meint Steffen Mau bei Spon, zu stark wirken "Osttrotz" und "Oststolz". Die SZ (aber nicht die FAZ) erinnert an Frank Schirrmacher, der vor zehn Jahren gestorben ist. Auf Spon wirft der Historiker Martin Schulze Wessel seinem Kollegen Jörg Baberowski mangelnde Faktenkenntnis und Empathielosigkeit gegenüber der Ukraine vor. Im Tagesspiegel antwortet Peter R. Neumann auf die Frage, ob Sahra Wagenknecht links oder rechts ist: "Beides!"
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.06.2024 finden Sie hier

Gesellschaft

Buch in der Debatte

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"Ungleich vereint" lautet der Titel des neuen Buches des Soziologen Steffen Mau. "Wir sind in die Posttransformationsphase übergegangen, die uns klarer als bisher vor Augen führt: Der Osten wird sich dem Westen nicht weiter anverwandeln, zu stark wirken die Prägungen der DDR, die Weichenstellungen der Wiedervereinigung und die Lasten der Transformationsjahre", erläutert er seine These bei Spon: Ostdeutschland sei im Gegensatz zum Westen ein "Land der kleinen Leute", leide unter "dramatischer Elitenschwäche", zudem sei ein neues "Ostbewusstsein" entstanden: "Ostdeutschland bleibt als sozialer und kultureller Erfahrungsraum durch reale Unterschiede, aber auch durch Familiennarrative und mediale Diskurse präsent. Anders als in den zwei Jahrzehnten nach der Wende wird das Ostdeutsche nicht mehr versteckt. Es kann als Opfererzählung und Osttrotz daherkommen, als neuer Oststolz oder auch einfach als Zugehörigkeitsgefühl. Womöglich gibt es sogar Parallelen zu Phänomenen der Rekulturalisierung, wie wir sie von Angehörigen der zweiten und dritten Migrantengeneration kennen. Sie sind sensibler für Diskriminierungen als ihre Eltern und Großeltern, sie treten gleichzeitig selbstbewusster auf. Dazu passen die aktuellen Bemühungen, das Merkmal 'ostdeutsch' in die Register der Identitätspolitik einzutragen und daraus die Forderung nach Gleichstellung und Anerkennung abzuleiten."

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Die Historikerin Christina Morina wurde für ihr Buch "Tausend Aufbrüche" mit dem Sachbuchpreis ausgezeichnet. Das ist ein wichtiges Signal, meint Alexander Cammann auf Zeit Online, vor allem "nach jener Wahl, die für die Demokratie im Osten Deutschlands vielleicht noch düsterer als erwartet ausging." Dass der Osten durchaus eine "Demokratieanspruchsgeschichte" hat zeigt Morina anhand vieler ausgewerteter Briefe und Eingaben an die DDR-Regierung: "Gut möglich, dass diese von Morina gezeigten Techniken in Ostdeutschland nachwirken im Umgang mit der parlamentarischen Demokratie heute. Und zugleich irgendwann ein eigenes selbstbewusstes Demokratieabenteuer entwickelten: 1989 gab es im Osten tausend Aufbrüche auch an ganz alltäglicher Demokratie, an Utopien und Träumen, die sich in zahlreichen Manifesten und Positionspapieren niederschlugen - die dann allerdings in den pragmatischen Routinen der eingespielten westlichen Erfahrungen keine Chance hatten." Auch Jens-Christian Rabe findet hier für die SZ einige "unbequeme Antworten" auf den Rechtsruck im Osten.

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Die Autorin Gilda Sahebi hat gerade das Buch "Wie wir uns Rassismus beibringen" veröffentlicht. Als Gesellschaft tragen wir von Generation zu Generation immer die gleichen Projektionen weiter, sagt sie im taz-Gespräch: "Das stärkste Narrativ ist 'Wir gegen die'. Dieses 'Wir' wird über die deutsche Abstammung definiert. 1913 wurde gesetzlich festgelegt, dass deutsch nur ist, wer deutsches Blut hat. Das tragen wir immer noch stark in uns. Wenn ich in Berlin durch die Straßen gehe, habe ich gelernt, zu unterscheiden, wer deutsch ist und wer nicht."

Außerdem: Anna Nowaczyk resümiert in der FAZ einen Abend, der im Rahmen einer Programmreihe der Anne-Frank-Bildungsstätte stattfand, die zum Gedenken an Anne Franks 95. Geburtstag eine Woche lang Veranstaltungen in Frankfurt zum jüdischen Leben organisiert.
Archiv: Gesellschaft

Europa

Bei Spon antwortet der Historiker Martin Schulze Wessel dem Osteuropa-Historiker Jörg Baberowski, der einen Sieg Russlands über die Ukraine aufgrund der militärischen Überlegenheit der Russen für unausweichlich hält, wie er vor einer Woche in einem Spiegel-Interview sagte. Baberowski argumentiere im Sinne eines scheinbaren "Realismus", der allerdings zum einen von Empathielosigkeit zeuge, zum Anderen aber wichtige Fakten ignoriere: "Anders als man nach der Lektüre des Interviews annehmen müsste, hat Russland im Frühjahr 2024 keineswegs einen triumphalen Sieg errungen. Vielmehr sind russische Truppen an einigen Frontabschnitten lediglich fünf bis zehn Kilometer vorgerückt. Charkiw bleibt aber außerhalb der Reichweite dieser Truppen, auch der Artillerie. ... Für die verhältnismäßig geringen Geländegewinne hat Russland einen enormen Verlust an Soldaten erlitten, in diesem Frühjahr weit mehr als in jeder anderen Phase des Kriegs. Die Zahl der russischen Gefallenen steht zu den ukrainischen Verlusten im Verhältnis von sechs zu eins."

Ist die Wagenknecht-Partei eigentlich links oder rechts? Beides! Tatsächlich macht der Politikwissenschaftler Peter R. Neumann im Tagesspiegel die "ideologische Tradition" aus, der Wagenknecht folgt: der "Nationalbolschewismus" vereint sozialistische und rechte Elemente. Er geht zurück auf George Sorel, so Neumann, der Anfang des 20. Jahrhundert ein "Bündnis von revolutionär orientierten Linken mit revolutionär orientierten Rechten" anstrebte: "Wagenknecht ist also keine 'National-Sozialistin', aber ihre neue Partei würde sehr gut an die national-bolschewistische Tradition anknüpfen. Ihre Positionen in der Wirtschaftspolitik sind nach wie vor links, wenn nicht sogar revolutionär; doch in der Gesellschaftspolitik steht sie mittlerweile weit rechts; Nationalismus ist für sie nicht mehr Gegner, sondern Mittel und Zweck, um Menschen für ihre Art von Sozialismus zu mobilisieren."

Der Linken fehlt sowohl eine "klare Vision" für die Zukunft als auch der Mut diese umzusetzen - hier macht Georg Diez auf Zeit Online einen Grund für den Aufstieg der Rechten aus. Dabei gebe es progressive Positionen, wie die des Wirtschaftshistorikers Adam Tooze, die bei der Verwirklichung eines Vorhabens wie der Umstellung auf erneuerbare Energien Orientierung geben: "Gleichzeitig, auch das machte er deutlich, muss man für ein solches Projekt willens und in der Lage sein, Konflikte zu führen. Die Bedingungen für die grüne Transformation sind ökonomisch - etwa durch die immer noch günstigen Kreditkonditionen für den Staat - so gut wie selten. Und es gehe auch nicht darum, 'alle mitzunehmen', was etwa Robert Habeck (Grüne) nach wie vor versucht, zuletzt hat er sich ja sogar entschuldigt, dass er den Leuten zu viel zugemutet habe. Vielmehr gehe es darum, dass man zunächst die 70 Prozent mitnimmt, die billige Wärmepumpenenergie haben wollen - und für den Rest über entsprechende Regulierung nachdenkt."

Emmanuel Macrons Ankündigung neuer Parlamentswahlen in ein paar Wochen sorgt in Frankreich für ein wahres Tohuwabohu. Eric Ciotti, Präsident der bürgerlich rechten Partei Les Républicains, hat angekündigt mit Marine Le Pen paktieren zu wollen - und könnte damit für die Auflösung seiner Partei sorgen, die dabei größenteils nicht mitmachen will. Auf der Linken zirkuliert die Idee einer "Volksfront" gegen das Rassemblement und damit einer Wiederholung der Geschichte als Farce. Das Problem dabei ist, dass Jean-Luc Mélenchons Partei "La France Insoumise" heute der aggressivste Akteur eines neuen Antisemitismus ist, bei dem selbst französische Linke schlucken müssen. Im Gespräch mit Le Point wendet sich Manuel Valls, der ehemalige sozialistische Premierminister Frankreichs, vehement gegen eine "Volksfront" und fordert eine "eine breite Koalition, die all jene auf der Linken und der Rechten vereint, die gemeinsame Werte haben. In Bezug auf Europa, die Ukraine, die Wirtschaft, den Säkularismus und die Gefahr des zunehmenden Antisemitismus gibt es viele Übereinstimmungen. Ich war in der Nationalversammlung, um mir die Rede von Wolodimir Selenski anzuhören, nur die Hälfte der Abgeordneten war anwesend. Das ist doch erschreckend."

In der NZZ porträtiert Ulrich M. Schmid den russischen Politiker Wladislaw Surkow, der bis 2020 Berater Putins war und zu den düsteren Figuren aus dem engeren Kreis des Präsidenten gehört.
Archiv: Europa

Ideen

Auf den Geisteswissenschaften-Seiten der FAZ antworten der Politologe Lars Rensmann und die Soziologin Karin Stögner auf Uffa Jensen und Stefanie Schüler-Springorum, die ebenda unter anderem die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus verteidigt hatten (Unser Resümee): "Die 'Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus' (JDA), auf die sich Jensen und Schüler-Springorum berufen, spielt camouflierte Formen des israelbezogenen Antisemitismus herunter. Dass Jensen und Schüler-Springorum ausgerechnet unter Berufung auf die JDA vor der 'Ausweitung des Feldes der Antisemitismusforschung ins Politische' warnen, ist besonders irreführend. Denn die JDA ist eine durchweg politische Erklärung, die von außerwissenschaftlichen Zielen angetrieben wird: Es geht ihr nicht um einen wissenschaftlichen Zugang, sondern darum, 'Räume für eine offene Debatte über die umstrittene Frage der Zukunft Israels/Palästinas zu wahren', einschließlich 'möglicher politischer Lösungen, zum Beispiel Ein-Staaten- oder Zwei-Staaten-Lösung'. Dass der 'Zionismus' wie der Nationalsozialismus sei oder dass der jüdische Staat zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer eliminiert oder 'vom Fluss bis zum Meer' 'befreit' werden soll - all das soll nicht 'per se' als antisemitisch gelten."

In einem sehr detaillierten Artikel auf Zeit Online zeichnet Joseph Croitoru indes den Ursprung der Formel "From the river to the sea" nach. In Abwandlung tauchte die Form wohl zuerst auf israelischer Seite auf, zeigt Croitoru, zum Beispiel bei der ultranationalistischen Bewegung der Revisionisten, die auch das Ostjordanland für Israel beanspruchten. Erst viel später "unter dem Eindruck solcher israelischen Parolen scheint eine ähnliche geopolitische Rhetorik Eingang in den Diskurs der palästinensischen Befreiungsbewegung gefunden zu haben. Der Spruch von der Befreiung Palästinas 'vom Fluss bis zum Meer', der - wie heute kolportiert wird - angeblich schon in den Sechzigerjahren in Gebrauch war, ist jedenfalls auch nach langer Suche in den einschlägigen palästinensischen Publikationen der Zeit nicht zu finden." Croitoru findet, die (juristische) Beurteilung der Formel solle "bei der Beurteilung politischer Artikulationen der Fluss-zum-Meer-Metaphorik endlich deren insgesamte Verwendung im Nahostkonflikt in den Blick nehmen - nicht nur die auf palästinensischer, sondern ebenso auch diejenige auf israelischer Seite."

Außerdem: Vor einem Monat hatte der Judaist Peter Schäfer gegen Omri Boehms Buch "Radikaler Universalismus" in der FAZ einen "willkürlichen Eingriff" in den Text der Genesis vorgeworfen. Dies lasse in "tiefe exegetische Abgründe" blicken, so Schäfer. (Unser Resümee). "Ich berufe mich nicht auf einen 'Abrahambund', um eine 'gemeinsame Basis', eine abrahamitische Identität für Juden und Palästinenser herbeizufantasieren."
Archiv: Ideen

Wissenschaft

Im Verfassungsblog verurteilten die Juristen Michael Plöse und Benjamin Rusteberg die Räumung des Protestlagers an der HU, die laut HU-Präsidentin Julia von Blumenthal von Berlins Bürgermeister Kai Wegner und von Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra anberaumt worden war, als rechtswidrigen Eingriff in die Hochschulautonomie. Dem widerspricht Thomas Thiel heute in der FAZ. Die juristische Bewertung hänge "von der Frage ab, ob die Hochschulpräsidentin zuvor ihre Amtspflicht vernachlässigte, als sie den Hausfriedensbruch zunächst duldete und die Demonstranten gewähren ließ, die im sozialwissenschaftlichen Institut schwere Schäden anrichteten."

Ebenfalls in der FAZ ist Patrick Bahners nach wie vor fassungslos, dass die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Bettina Stark-Watzinger (FDP) den Unterzeichnern, die den offenen Brief von Lehrenden der Berliner Universitäten unterschrieben haben, in der Bild vorgeworfen hatte, sie würden nicht auf dem Boden des Grundgesetzes stehen: "Ein von einer Ministerin geäußerter Verdacht der Verfassungsfeindschaft gegen Einzelpersonen - das ist, um die Kategorie der Ministerin zu übernehmen, in der Geschichte exekutivmächtigen Gegendemonstrierens eine neue Qualität." Bahners verweist zudem auf eine NDR-"Panorama"-Recherche, die einen ministeriumsinternen Mailverkehr offenlegte, in dem eine "juristische Prüfung einer etwaigen strafrechtlichen Relevanz der Aussagen in dem offenen Brief" angestrebt wurde.
Archiv: Wissenschaft

Politik

Dass die BJP-Regierung von Narendra Modi bei den Wahlen in Indien trotz "Kontrolle der Medien, trotz einer Vereinnahmung der Institutionen und voller Wahlkampfkassen und trotz einer ohrenbetäubenden hindunationalistischen Rhetorik" viele Parlamentssitze verloren hat, ist für Ilija Trojanow in der taz ein "Triumph der Demokratie", denn: "Millionen von überwiegend ungebildeten Menschen haben erkannt, dass der Personenkult um Modi und die Instrumentalisierung von Religion in der Politik nicht in ihrem Interesse liegt. Und ein Aktivist der Oppositionspartei sagte voller Inbrunst: 'In den Dörfern verbreitete die BJP jahrelang Lügen gegen uns - mit der Behauptung, wir seien Anti-Hindu. Sie haben meine Religion als Waffe gegen mich eingesetzt, um Stimmen zu gewinnen.' Vergebliche Demagogie. Das ist außerordentlich. Wie schon zuvor in Pakistan hat die in den medialen Untergrund getriebene Opposition mit basisdemokratischem Aktivismus und Youtube-Aktionismus reagiert."
Archiv: Politik
Stichwörter: Indien

Medien

Vor zehn Jahren starb FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher, der letzte große Zampano des deutschen Feuilletons, ein Berserker, dem seine Zeitung und der deutsche Kulturbetrieb viel zu klein waren, vor dem die gesamte Kollegenschaft in Angst erstarrte (auch mit dem Perlentaucher gab es Scharmützel), und der doch nach seinem plötzlichen Tod erstaunlich gründlich vergessen wurde. Seitdem ist Routine eingekehrt. Die FAZ verliert über ihn heute kein Wort. In der SZ erinnert der einstige FAZ-Redakteur Nils Minkmar. "Die Leute sollten, wenn sie sein Feuilleton lesen, am besten vom Stuhl fallen. Vor Verblüffung, vor Entzückung oder vor Entsetzen - egal. Das Blatt sollte diese großartige, auch gefährliche, in jedem Fall aber neue Welt an jedem Tag feiern, verdammen und hinterfragen."
Archiv: Medien
Stichwörter: Schirrmacher, Frank