Efeu - Die Kulturrundschau

Himmelsstürmerische Träumereien

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.06.2024. Der nachtkritik wird von Ingo Kerkhof am Staatstheater Wiesbaden ein traumhaftes Spektakel geboten: Luigi Pirandellos "Die Riesen vom Berge" ist ein wahres "Zauberkunststück", jubelt sie. Der Freitag durchlebt bei einer bislang ungespielten Variane von Arnold Schönbergs Violinkonzert op. 36 an der UdK Berlin alle denkbaren Emotionen. Die taz erfährt in einer Ausstellung in der "Draiflessen Collection" Räume, die unter die Haut gehen. Die SZ lässt sich von einer KI ihre Wunschserie zusammenstellen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.06.2024 finden Sie hier

Bühne

Szene aus "Die Riesen vom Berge". Foto: Foto: Karl und Monika Forster.

Ein "verspieltes Panorama voll von Poesie, himmelsstürmerischer Träumereien und bedrohlichster Abgründe" wird nachtkritiker Michael Laages mit Ingo Kerkhofs Inszenierung von "Die Riesen vom Berge" am Staatstheater Wiesbaden geboten. Die Aufführung des unvollendeten Dramas von Luigi Pirandello markiert das Ende der Intendanz Uwe-Eric Laufenbergs und setzt ans Ende der internen Streitereien (unser Resümee) ein richtiges "Zauberkunststück", wie sich Laages freut. Schauplatz ist die "Villa Scalone", in der eine Gruppe von Außenseitern auf eine Theatergruppe um die exzentrische Gräfin Ilse trifft: "Immer mal wieder in der Theatergeschichte haben ja Autorinnen und Autoren den (durchaus schwierigen) Versuch unternommen, dem Publikum zu erklären, wie Theater entsteht, nach welchen Regeln es funktioniert. Was in der Villa Scalogna geschieht, dem Zuhause der Pechvögel, veredelt Ort und Zeit und Raum zum Universum der Sehnsüchte. Nicht, dass da immer gleich Sinn zu ergründen wäre im Wirbel der Worte - stattdessen 'nurmehr Wahn', wie es immer wieder heißt. Alle Sicherheit, alle Wahrheit schwindet dahin, alles verschwimmt - so sehr, dass jetzt tatsächlich 'Riesen' von den Bergen herab kommen könnten; wir, das Publikum, sind ja auch schon da." Auch in der FR gratuliert Marcus Hladec zu dieser "superbunten, schönen und wissend arrangierten Arbeit". 

Besprochen werden Philipp Arnolds Inszenierung des Stücks "Prana Extrem" nach dem Roman von Joshua Groß am Münchner Volkstheater (nachtkritik), Bettina Bruiniers Inszenierung von Miru Miroslava Svolikovas Stück "Gi3F (Gott ist drei Frauen)" am Tiroler Landestheater (nachtkritik), Bernadette Sonnenbichlers Adaption von Dana Vowinckels Roman "Gewässer im Ziplock" (nachtkritik), Axel Ranischs Inszenierung der DDR-Operette "Messeschlager Gisela" am Düsseldorfer Schauspielhaus (nachtkritik), das Musical "Very Rich Angels" der dänischen Künstlerin Madame Nielsen an den Münchner Kammerspielen (SZ) und Helena Jacksons Inszenierung von Gary Owens "Killology" am Schauspiel Frankfurt (FR).
Archiv: Bühne

Literatur

Andreas Platthaus berichtet in der FAZ von der Verleihung des Börne-Preises an Daniel Kehlmann. Welt-Redakteur Holger Kreitling verbringt einen Nachmittag in der Thomas-Mann-Villa in Los Angeles. Mladen Gladić blickt in der Welt mit Italo Calvinos Erzählung "Der Tag eines Wahlhelfers" (1963) auf die italienischen Wahlen 1953 zurück. Dinçer Güçyeter wird Stadtschreiber von Bergen-Enkheim, meldet Judith von Sternburg in der FR. Christopher Wimmer schreibt in der taz einen Nachruf auf den Verleger und Schriftsteller Eric Hazan.

Besprochen werden unter anderem Valerie Fritschs "Zitronen" (FR, NZZ), Theresia Enzensbergers "Schlafen" (Standard), Saša Stanišićs Erzählband "Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne" (Zeit) und Colm Tóibíns "Long Island" (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Hubert Spiegel über Jan Wagners "unterwegs im nebel":

"ragte die autobahn plötzlich auf zu den wolken
oder hatten die wolken sich entschlossen ... "
Archiv: Literatur

Musik

In der Universität der Künste in Berlin wurde vergangene Woche eine bislang ungespielte Variane von Arnold Schönbergs Violinkonzert op. 36 gespielt. Freitag-Kritiker Michael Jäger war dabei: "Alle nur denkbaren Gefühle werden mit immer demselben Tonmaterial, das sich auf verschiedenste Art in sich selbst spiegelt, auf den musikalischen Begriff gebracht. Die Zäsuren zwischen den Variationen waren stets hörbar. Eine ziemlich erregte, auch laute Passage kommt gleich in den ersten Minuten: In früheren 'strukturalen' Interpretationen, die wohl immer glaubten, sie müssten eine Gesamtstruktur als großen Bogen von der ersten bis zur letzten Note vermitteln, verstand man gar nicht, was das sollte; hier verstand man, es war eine einzelne Spiegelung neben den anderen. ... Diese Komposition soll nicht irgendwo hinführen, ... sondern will von vielen Seiten, für viele wahrnehmbar eine Erlebniswelt zeigen, die über Melancholie niemals hinausreicht. Die bleibende Melancholie eines Zeitalters."

Außerdem: Dirk Schneider berichtet in der taz von einer Veranstaltung zur Geschichte der "Hamburger Schule", um die zuletzt wieder arg gestritten wurde. Helmut Mauró spricht für die SZ mit dem Bariton Andrè Schuen über Schubert. Ljubiša Tošić spricht für den Standard mit Peter Paul Kainrath, dem Intendanten des Klangforums Wien. Gabriele Reiterer erinnert im Standard an die Steinbildhauerin und Musikerin Anna Mahler, Tochter von Gustav und Alma Mahler, über die sie kürzlich auch eine Biografie veröffentlicht hat. Nicholas Potter schreibt im Tagesspiegel über den Unmut vieler Fusion-Mitarbeiter und -Gäste, nachdem das jährlich in der Natur von Mecklenburg-Vorpommern stattfindende Elektro-Festival zuletzt "in essaylangen Statements um die richtige Wortwahl ringt, um Israel zu kritisieren".

Besprochen werden das Schönbrunn-Konzert der Wiener Philharmoniker (Standard), ein Konzert des Dallas Symphony Orchestra mit Anne-Sophie Mutter in Frankfurt (FR) und ein Konzert von Liam Gallagher in London (SZ).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Doreen Dormehl über Eminems neue Single "Houdini":

Archiv: Musik

Film

Die Plattform Showrunner wirbt für sich als "Netflix der KI" und verspricht: Hier kann man sich angeblich die eigenen Wunsch-Serien einfach per Texteingabe erstellen lassen und sehen (mit dem Manko allerdings, dass derzeit nur Zeichentrickoptiken zur Verfügung stehen). "Für die pathologischen Binge-Watcher klingt das wahrscheinlich nach einer sehr nahen Entsprechung des Paradieses", schreibt Michael Moorstedt in der SZ. Doch angesichts bisheriger Ergebnisse "sollte man seine Erwartungen nicht allzu hoch ansetzen." Mitunter "scheinen Serien nur aus Standbildern zu bestehen, die Animationen sind schief, die Stimmen ton- und die Ideen einfallslos. Trotz allem handelt es sich natürlich um ein prima Geschäftsmodell: In Zukunft sollen die Nutzer nicht nur eine Abo-Gebühr für die Inhalte-Plattformen bezahlen, sondern diese auch noch selbst befüllen."

Harald Staun relativiert in der FAS das Werbeversprechen weiter: "Statt mit einem einzigen Prompt ganze Folgen oder Staffeln zu erzeugen, eignen sich die KI-Tools eher dazu, kürzere Szenen oder Clips zu entwerfen, 30 Sekunden, maximal einige Minuten. Mit komplexen Erzählbögen über mehrere Staffeln wie bei 'Breaking Bad' sind sie eher überfordert. ... Auf den ersten Blick wirken die Ergebnisse beeindruckend und dank der Fähigkeit, bestehende Stilmerkmale perfekt nachzuahmen und neu zu kombinieren, gelegentlich fast originell. Sogar Pointen funktionieren manchmal, weil ja auch diese oft auf bewährten Regeln beruhen. Und doch meint man früher oder später immer die Formelhaftigkeit der Skripts zu erkennen." Hier die erste Episode der an "South Park" angelehnten "Terminator"-Variante "Exit Valley":



Außerdem: Leo Geisler setzt im Filmdienst seine Essayreihe über "Kuchenfilme" fort. Besprochen werden der Katalog zur Ausstellung "Der deutsche Film. 1895 bis Heute" (FD), Matt Johnsons "Blackberry" (FAZ), Mahalia Belos Katastrophenfilm "The End We Start From" (FAZ), Ishana Shyamalans Horrorfilm "They See You" (Standard, unsere Kritik) sowie Cameron und Colin Cairnes' Horrorfilm "Late Night with the Devil" (Jungle World).
Archiv: Film

Design

Daniel Brühl als Karl Lagerfeld (Disney)

Apple über Dior, Disney über Balenciaga und nochmal Disney über Karl Lagerfeld (mit Daniel Brühl in der Titelrolle) TV-Serien über Modeschöpfer sind aktuell schwer in Mode, stellt Daniel Haas in der NZZ fest. Das ist für ihn in zweierlei Hinsicht mentalitätshistorisch interessant: "In einer Zeit, die sich modisch auf Regression verlegt und Männern wie Frauen das Erscheinungsbild von Teenagern verordnet (Sneakers, Jeans, Sweatshirt), muss der Schlüssellochblick in eine Welt attraktiv sein, in der erbittert um Saumlängen und Reversbreiten gestritten wird. An Lagerfeld fasziniert die Deutschen besonders der preußische Schneid, die verbale Schärfe und die Unabhängigkeit von den Konventionen politischer Korrektheit. ... Artistischer Überschwang, geistige Flamboyanz: gerne, aber bitte nicht zu viel davon. Lagerfeld ist deshalb der perfekte Medienfetisch für eine Gesellschaft, die sich ihre Denk- und Meinungsoutfits auf Bequemlichkeit zuschneidet, auf ein paar markante Akzente aber nicht verzichten möchte."
Archiv: Design

Architektur

Do Ho Suh, Blueprint, 2014, Privatsammlung, Südkorea © Do Ho Suh. Image courtesy the artist and Lehmann Maupin, New York, Seoul, and Londo

Körper als Raum, Raum als Körper - dass Behausungen nicht nur vor Wind und Regen schützen, sondern auch in der Seele wirken, kann Harff-Peter Schönherr für die taz in der Ausstellung "Räume Hautnah" in der Draiflessen Collection in Mettingen bei Osnabrück beobachten. Spaß macht das nicht unbedingt, so Schönherr, denn die Werke gehen manchmal ganz schön unter die Haut: "Eine der eindrücklichsten ist "One Thousand Shacks" von der US-Amerikanerin Tracey Snelling: eine Mixed-Media-Wand mit Video und Sound. Eine 5 mal 3 Meter große, mithin monumentale Miniatur-Favela; Dutzende Häuser aus Sperrholz, Wellpappe und Fundmüll, mit winzigen Fenstern, hinter denen winzige TV-News-Bilder Armuts-Botschaften senden, Meldungen die von Drogen handeln, von Gewalt. Die pittoresk farbigen Fassaden und Beleuchtungstupfer von Eisblau bis Blutrot täuschen nicht darüber hinweg, dass Menschen nicht wohnen sollten wie in diesen demütigenden Elends-Verschlägen - gegen die der willentliche Verzicht im luxuriösen Tiny House wie Hohn wirkt."

Außerdem: In der FAZ gratuliert Matthias Alexander dem Frankfurter Architekten Jürgen Engel zum Siebzigsten.
Archiv: Architektur
Stichwörter: Raumerfahrung

Kunst

Die NZZ bringt einen Kunst-Schwerpunkt zur Art Basel: Susanna Koeberle bewundert Simone Fattals Keramikkunst, die bei der Biennale in Venedig im Frauengefängnis auf der Giudecca zu sehen ist: "Ihre Keramikskulpturen sehen wie natürlich gewachsen aus. Wenn Fattal auf Darstellungen von architektonischen Strukturen zurückgreift, dann haben diese meist etwas von Tempeln oder Ruinen. Doch egal wie versehrt diese erscheinen mögen: Die Künstlerin nennt diese Architekturen stets 'maisons'; sie bleiben für sie Häuser, mit anderen Worten Schutzstätten. Sogar ihre menschlichen Figuren haben etwas von Architekturen: Die Beine haben Ähnlichkeiten mit Säulen. In den stehenden Keramikskulpturen kommen der mineralische Ursprung von Bauwerken, die Erde als Urmaterie sowie die Figur des Menschen zusammen." Außerdem in der NZZ: Daghild Bartels ergründet die Geschichte des Berliner "Gallery Weekend". Roman Hollenstein schreibt zur boomenden Kunstszene Abu Dhabis. Madeleine Schuppli besucht vier aufstrebende Galerien in Rom, Annegret Erhard schreibt über das Museum der Sammlerin Helene Kröller-Müller in den Niederlanden.

Weiteres: Rüdiger Schaper taucht für den Tagesspiegel ein in eine Welt aus gläserner Kunst in der Fondazione Berengo in Murano. Besprochen werden die Ausstellung "Frischer Wind. Impressionismus im Norden" im Museum Kunst der Westküste im Alkersum/Föhr (tsp), Die Andy Warhol-Austellungen "Velvet Rage and Beauty" in der Neuen Nationalgalerie und "After the party" im Fotografiska Berlin (tsp), die Installation "Bunker - Realer Raum der Geschichte" von Andreas Mühe im Berliner Kunsthaus Dahlem (Welt), die Retrospektive "Die Auto-Perforations-Artisten (F.A.Q.)" im Kunstverein Ost in Dresden (taz) und die Ausstellung "Painting as Prop" mit Werken von  Wilhelm Sasnal im Amsterdamer Stedelijk (FAZ).
Archiv: Kunst