9punkt - Die Debattenrundschau

Die anderen sind mächtiger

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.05.2024. Gibt es noch Wege aus dem Getümmel? Wohl nicht. Dana Vowinckel will den protestierenden Studenten in der SZ durchaus Friedenswillen unterstellen - aber sie sieht auch ihren Antisemitismus. In der FAZ analysiert der israelische Historiker Gad Arnsberg die tiefe existenzielle Verunsicherung, die der 7. Oktober für Israel bedeutet. Der Berliner Dozentenaufruf empört Philp Peyman Engel in der Jüdischen Allgemeinen. Aber die Dozenten sind auch empört. Auch sonst steht es übel: Richard Herzinger lotet die "antifaschistische" Camouflage des Kreml aus. Der Brexit war ein Flop. Die Georgier wehren sich umsonst.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.05.2024 finden Sie hier

Europa

Dänemark.


Niederlande.


Eine griechische Schlagersängerin beim European Song Contest, während ihre israelische Kollegin Eden Golan von der Presse befragt wird:


Frankfurt. Patrick Bahners, Redakteur einer renommierten Zeitung, erklärt die Parole "From the River to the Sea".


Große Empörung herrscht auf Twitter über eine Seite der Bild-Zeitung, die einige der tausend Professoren des Berliner Dozentenaufrufs (unser Resümee) namhaft macht.


Bei einem Vortrag von Professor Alfred  Bodenheimer zum Thema Antisemitismus an der Uni Hamburg kam es zu einem gewalttätigen Vorfall, berichtet Michael Thaidigsmann in der Jüdischen Allgemeinen: "Einem Vorstandsmitglied des Hamburger Landesverbands der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) wurde nach einer verbalen Auseinandersetzung ins Gesicht geschlagen. Die 56-jährige Frau war zunächst übel beschimpft worden. Anschließend wurde sie gewürgt und durch einen Faustschlag an der Nase verletzt." Die Frau, die sich übrigens tatkräftig wehrte, musste in der Notaufnahme eines Krankenhauses versorgt werden.

Die Besetzung des FU-Campus war nicht so friedlich, wie es die inzwischen 339 Dozenten plus 726 externen Unterstützer behaupten, schreibt Philipp Peyman Engel in der Jüdischen Allgemeinen, mit Parolen wie "From the River ..." oder "Yallah Yallah Intifada" wurde zur Gewalt aufgerufen. Engel wendet sich direkt an die Unterzeichner: "Würden sie sich auch hinter die Studenten-Proteste stellen, wenn es nicht linksextreme, sondern rechtsextreme Studierende wären, die die Auslöschung Israels fordern und zu Gewalt gegen Juden aufrufen? Gewiss nicht. Zu Recht. Warum tun sie es dann hier? Muss man es Akademikern wirklich erklären? Es darf keinen Kulturrabatt bei Judenhass geben."

Das erste Camp auf dem Campus einer Uni in Deutschland gab es in Köln, berichtet Tom Konjer in der FAZ: "Mittlerweile stehen die Zelte schon fast eine Woche lang. Darauf, dass es das erste propalästinensische Studenten-Camp in Deutschland ist, sind die Demonstrierenden hier stolz. Damit habe man etwas angestoßen und Studenten im ganzen Land inspiriert, mitzuziehen. Doch ist fraglich, ob das Camp von Studenten organisiert wird, nicht viele im Camp bezeichnen sich als solche."

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Die taz kommt auf einen gewalttätigen Angriff gegen einen Dresdner SPD-Politiker zurück, der beim Aufstellen von Wahlplakaten zusammengeschlagen wurde. Bundesinnenministerin Nancy Faeser sprach von einer "neuen Dimension antidemokratischer Gewalt", aber das ist eine Beschönigung, findet der Extremismusexperte David Begrich im Gespräch mit Konrad Litschko von der taz. Besonders in den Neuen Ländern habe man viel zu lange weggesehen: "Natürlich erleben wir nicht jeden Tag solch schwere Gewalttaten. Aber ich will daran erinnern, dass wir schon seit Jahren etwa körperliche Angriffe auf Journalisten und Journalistinnen erleben, die in Sachsen über die rechten Montagsdemonstrationen berichten. Oder denken Sie zurück an die Wahlkämpfe Ende der Neunziger Jahre in Ostdeutschland, da gab es ähnliche Situationen, als Neonazis aus dem NPD-Umfeld gewalttätig wurden. Der Angriff auf Matthias Ecke ist daher Teil einer langen Kontinuität, nicht eine Ausnahme."

In der FAS wird die Brandenburger FDP-Politikerin Linda Teuteberg zu den tätlichen Angriffen gegen Politiker interviewt. Die meisten Opfer gewaltsamer körperlicher Angriffe seien allerdings AfD-Politiker gewesen, sagt Interviewer Jochen Buchsteiner und fragt, ob hier mit zweierlei Maß gemessen werde: "Das darf jedenfalls nicht geschehen. Es gibt keine ethische Überlegenheit irgendeiner Variante des gewaltbereiten Extremismus und niemals eine Rechtfertigung für Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung. Die Regeln des demokratischen Rechtsstaates müssen ohne Ansehen der Person und des politischen Lagers angewendet werden." In dem Gespräch äußert sich Teuteberg auch noch mal zum "Demokratiefördergesetz" (unsere Resümees). Es sei "ein Widerspruch in sich, Nichtregierungsorganisationen strukturell und dauerhaft von der Regierung finanzieren zu lassen".

Überaus trist liest sich Sascha Zastirals Bilanz nach dem Brexit einige Jahre danach. Aus den hochfliegenden Versprechungen ist nicht viel geworden, neue Freihandelsverträge gibt es kaum, die Wirtschaft ist geschrumpft, das Land deprimiert, erzählt er in der taz. "Von den wirtschaftlichen Folgen des Brexits sind heute tragischerweise viele der wirtschaftlich abgehängten Regionen besonders stark betroffen, in denen es beim EU-Referendum 2016 eine Mehrheit für den EU-Austritt gab. Dass die Menschen dort für den Brexit gestimmt haben, hatte oft weniger mit einer Sehnsucht nach einem Status als Weltmacht zu tun als mit dem Willen, gehört zu werden."

Eine der schärfsten Waffen Alexej Nawalnys waren die großen Dokumentationen über russische Korruption, die er bei Youtube einstellte (es lebe dieses böse Internet). Seine ehemalige Mitarbeiterin Marija Pewtschich hat nun bei Youtube eine Reihe von drei einstündigen Filmen eingestellt, die auf die neunziger Jahre zurückkommt, die Putin möglich machten, berichten Friedrich Schmidt und Reinhard Veser in der FAS. Sie schidert, "wie Jelzin, der Ende der Achtzigerjahre als Volkstribun und Kämpfer gegen die Privilegien kommunistischer Funktionäre populär geworden war, sich schon zu Beginn seiner Regierungszeit auf Staatskosten selbst eine Wohnung angeeignet und andere Luxuswohnungen freihändig an Familie, politische Mitstreiter und Freunde verteilt hat. Wie der Geschäftsmann und Strippenzieher Boris Beresowskij mit fiktiven Verträgen den damals größten staatlichen Fernsehsender unter seine Kontrolle brachte. Und vor allem, wie eine Gruppe von Oligarchen Mitte der Neunzigerjahre vom russischen Staat im Gegenzug für ein gigantisches Geschäft 1996 die Wiederwahl Jelzins sicherstellte." Die Videos sind hier mit englischen Untertiteln zu sehen.

Die Öffentlichkeit hat kaum noch Kapazität, die anhaltenden schicksalhaften Demonstrationen in Georgien wahrzunehmen. Sie richten sich gegen ein Gesetz, das Gegner der Regierung zu "ausländischen Agenten" erklären soll, ganz so, wie die Repression in Russland zugeschnappt hat. Dieses Gesetz diene "ganz bewusst der Provokation des Westens", schreibt Tobias Münchmeyer in der FAS. Die Regierung wolle den europäischen Traum der georgischen Bevölkerung schleifen: "Die europäischen Politiker - von der Leyen, Macron, Michel und Scholz -, sie äußern sich kritisch und drohen für den Fall des Gesetzesbeschlusses mit Aufhebung der Visumfreiheit oder sogar dem Entzug des EU-Kandidatenstatus. Das ist richtig - und doch auch ein Dilemma, denn: Diese Drohungen laufen ins Leere, da die Regierung ja nicht wirklich Mitglied in der Europäischen Union werden will. Immer wieder tappen europäische Diplomaten in diese Falle, anstatt mit gezielten Sanktionen Druck auszuüben."
Archiv: Europa

Geschichte

Richard Herzinger publiziert auf seinem Blog eine Rede, die er zum Jahrestag der deutschen Niederlage am sowjetischen Mahnmal in Berlin-Treptow vor einer Gruppe russischer Oppositioneller gehalten hat. Gesprochen hat er über Putins obszönen Missbrauch der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg: "Die ganze Perfidie und Verlogenheit der 'antifaschistischen' Camouflage des Kreml wird daran deutlich, dass er in Wahrheit der wichtigste finanzielle und propagandistische Förderer sowie ideologische Einflüsterer der extremen Rechten in Westeuropa ist. Um seine 'antinazistische' Maske passend zu machen, muss Putin indes zentrale Teile der historischen Wahrheit aus der Geschichte tilgen. So etwa die, dass der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 der NS-Kriegsmaschinerie überhaupt erst den Weg zur Invasion Polens geebnet hat, wofür sich die Sowjetunion mit der Besetzung und brutalen Unterwerfung Ostpolens sowie der gewaltsamen Einverleibung der baltischen Staaten schadlos hielt."

An Josip Broz Tito, dem ehemaligen Staatsoberhaupt Jugoslawiens, scheiden sich heute die Geister, berichten Ksenija Cvetković-Sander und Martin Sander in einer Reportage für die NZZ: "Besonders für Touristengruppen aus dem Ausland ist Tito eine Attraktion. Unter den Einheimischen sind die Meinungen über ihn streng geteilt. Die Trennlinie verläuft zwischen dem größtenteils bosniakischen Osten und dem überwiegend kroatischen Westen." Nirgendwo zeige sich das deutlicher, als an dem vom Belgrader Architekten Bogdan Bogdanović entworfenen Partisanenfriedhof in Mostar, der immer wieder mutwillig beschädigt werde. "Die politische Verantwortung tragen die nationalkroatischen Politiker der Stadt, für die das Werk nur eine lästige Erinnerung an die Einheit und Brüderlichkeit der jugoslawischen Völker darstellt. Der 2010 im Wiener Exil verstorbene Bogdanović war nicht nur Architekt und Denkmalbauer, sondern auch ein ziemlich liberaler jugoslawischer Kommunist. In den achtziger Jahren hat er als Bürgermeister von Belgrad amtiert, bis die reformorientierte Parteiführung der damaligen jugoslawischen Teilrepublik Serbien von den Nationalkommunisten um Slobodan Milošević in die Wüste geschickt wurde. Heute, unter der Präsidentschaft von Aleksandar Vučić, hat sich der faschistoide Nationalismus von Milošević in Serbien erneut verfestigt, während die marxistischen Lehren der Tito-Ära einem putinesken Mystizismus gewichen sind."
Archiv: Geschichte

Ideen

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Die jüdisch deutsche Autorin Dana Vowinckel, die teilweise auf dem Campus der Uni Chicago aufgewachsen ist, sucht im Interview mit Marlene Knobloch von der SZ Wege aus dem Getümmel. Sie ist durchaus bereit, den an den Unis protestierenden Studenten Friedenswillen zu unterstellen - nur hält sie das nicht davon ab den Antisemitismus der meisten Proteste zu übersehen. "Alle haben das Gefühl: Die anderen sind mächtiger. Das ist der Kern des Problems. Es ist eine Frage der Macht. Alle haben das Gefühl die anderen haben mehr Macht. Ich habe das Gefühl: Die Leute bei diesen Protesten haben eine Macht über mich, davor habe ich Angst. Viele Menschen bei diesen Protesten sehen sich als rassistisch unterdrückt an - und sind es zum Teil auch. Alle glauben, sie stehen auf der richtigen Seite der Geschichte."

Der 7. Oktober war nicht nur ein abscheulicher Mordkarneval. Er trug auch symbolträchtige, programmatische Züge, die der Historiker Gad Arnsberg in der virtuellen FAZ-Printbeilage "Bilder und Zeiten" thematisiert: "Hier wurden jüdische Zivilisten (und auch Nichtjuden) erstmals Opfer eines Pogroms im eigenen Land, und der Staat setzte aus. Zugleich sollten eingesessene Ortschaften, die die Angreifer als 'Siedlungen' gleich denen in der Westbank betrachten, leer gefegt und unbewohnbar gemacht werden. Von der Zerstörung der Orte sollte eine Signalwirkung ausgehen, die in nuce ankündigt, was der jüdischen Ansiedlung in ganz Israel droht, nämlich die komplette Ausradierung und Aufhebung des zionistischen Aufbauwerks."

Außerdem: Ebenfalls in "Bilder und Zeiten" liest Marc Zitzmann einige französische Neuerscheinungen zum Völkermord in Ruanda vor dreißig Jahren. In der Welt versucht Jan Küveler dem Begriff des "Globalen Südens" auf die Spur zu kommen, dem einzigen Süden, dessen Gegenpol der Westen ist.
Archiv: Ideen