Vorgeblättert

Leseprobe Hubertus Kohle: Museen digital - Teil 2

27.08.2018.
III

Abbildung 3: Selfie im Getty Museum/ Los Angeles.  Foto: MudflapDC, CC BY-NC-ND 2.0.

Dabei ist die Entwicklung absolut nicht selbstverständlich und daher auch auf ihre Legitimität zu befragen. Sollte man die Weihestätte des Originals tatsächlich mit dem Digitalen als dem Inbegriff unendlicher Reproduzierbarkeit in Zusammenhang bringen? Ist nicht die EU eine Organisation, die sowieso weitgehend wirtschafts- und industriezentriert ist und der Kultur nur insofern eine Rolle zuweist, als sie in der Wohlstandgewinnung eine Rolle spielt? Die Frage spitzt sich zu in der geläufigen Reaktion auf die in manchen Museen schon überhand nehmende Anzahl von Besuchern, die sich permanent mit dem Smartphone vor einem berühmten Kunstwerk selber photographieren und dabei das Gerät häufig auf einem langen Träger, einem sogenannten Selfiestick, mitführen, um sich besser in Szene setzen zu können (Abb. 3).

Triumphierend wird dann von Skeptikern gerne hinzugefügt, dass mit solchen Trägern sogar schon häufiger die Kunstwerke beschädigt wurden. Und wenn schon im Museum digital gestützte Erklärungshilfen vorhanden sind: Wie steht es denn dann um digitale Präsentationen der Sammlungen nach außen hin, also im Internet, da, wo manche der eben zitierten Museumsfachleute ebenfalls präsent sein wollen? Zumal inzwischen viele Institute hier nicht mehr nur Öffnungszeiten und Anfahrtswege avisieren, sondern gleich mehr oder weniger qualitätsvolle Reproduktionen von ausgewählten oder gar allen ihren Werken zur Schau stellen. Werden die Besucher dann nicht wegbleiben, wenn sie es sowieso schon auf dem Bildschirm vor Augen haben? „Die eigenen Digitalisate ziehen (…) unerwarteterweise die Nutzer auch physisch an: Wir sind durch die digitalen Medien sichtbarer. Wer eine Grafik im Internet gesehen hat, will sie auch im Original anschauen“, beruhigt eine Bibliotheksvertreterin.x Diese Einsicht ist inzwischen vielfach präsent, aber nicht jeder will sich ihr fügen. Denn wer garantiert, dass dies nicht nur vorübergehend so ist? Andererseits war auch die Furcht groß, niemand würde mehr ins Fußballstadion gehen, als private Sender anfingen, die Spiele der Bundesliga teilweise komplett im Fernsehen zu zeigen. Heute sind die Stadien dagegen voller als jemals zuvor.

Folgt man den radikalen Vertretern eines digitalen Museums aus dem angelsächsischen Bereich, so wird der Museumsbesuch der Zukunft vor allem entschieden individualisiert und interaktiv sein, da jeder Museumsgänger erstens präzise erfasst und mit je nach Aufenthaltsort passenden Zusatzinhalten versorgt und zweitens nicht mehr nur Schauender, sondern Daten welcher Art auch immer Liefernder sein wird. Interaktion ist hier das Zauberwort, und die These lautet, dass eine Generation von Nutzern digitaler Medien sich nicht mehr mit der passiven Aufnahme von Bildungsinhalten etwa in einer Museumsführung zufrieden geben wird, sondern darauf Wert legt, eigene Aktivitäten zu entfalten. Wir werden im weiteren Verlauf auf vielfältige Formen stoßen, in denen diese Aktivität konkret wird. Hier nur schon einmal der Hinweis darauf, dass manche großen Museen wie die National Gallery in London jetzt schon die Daten von Besuchern aufzeichnen, um daraus eine predictive analysis des zukünftigen Museumsbesuches zu generieren.

IV

Die Reflexion der neuen Medien im Kontext des Museums findet vor einem gesellschaftlichen und kulturellen Hintergrund statt, der in schnellem Wandel begriffen ist. Inzwischen haben fast alle wichtigen Vertreter in Gesellschaft, Kultur und Politik verstanden, dass die Digitalisierung ein mächtiger, wenn nicht der mächtigste Agent der Modernisierung im 21. Jahrhundert sein wird und jetzt schon ist. Die neuen Medien scheinen dabei selber mitverantwortlich dafür zu sein, dass eine Grundvoraussetzung für das Gedeihen der Gedächtnisinstitution Museum mehr und mehr zerbröselt, die auch für andere Sphären kultureller Selbstvergewisserung einer Gesellschaft, etwa die an der Universität betriebenen Geisteswissenschaften, fundamental ist. Gemeint ist das, was man einen bildungsbürgerlich-humanistischen Grundkonsens nennen könnte, der einstmals im Schultypus des Gymnasiums vermittelt wurde und bestimmte Bildungsstandards beinhaltete, die auf eine lange Tradition zurückgriffen und gar nicht zu hinterfragen waren.

Bewusst problematisiert wurde dieser Grundkonsens schon nach 1968, als auch die Museen als Orte kritischer Bewusstseinsbildung eine (Re)naissance erlebten. Eher unbewusst verblassten humanistische Bildungsinhalte dann verstärkt im Zeitalter der elektronischen Medien, wobei in diesem Prozess sicherlich auch noch andere Faktoren eine Rolle spielten. War den gebildeten Schichten des 19. Jahrhunderts die gesamte antike Überlieferung einschließlich ihrer Vermittlungsmedien Griechisch und Latein noch selbstverständlicher Bildungsinhalt, dem schon gleichzeitig, aber vor allem danach in den Realienwissenschaften ein bedeutsamer Konkurrent erwuchs, so ist davon heute wenig übrig geblieben. Lateinunterricht wählen Eltern heute für ihre Kinder vor allem aus Gründen sozialer Distinktion, nicht weil es für sie selbstverständliche Grundlage aller Bildung ist. Nostalgiker beklagen die Auflösung von Wissen in Kompetenz, die Pervertierung von Bildung in Lernstoff. Hier genannt werden müssen diese Fakten vor allem deswegen, weil Bildungswissen auch für das in klassischen Kunstmuseen Gebotene essenziell ist.

An dieser Stelle das Digitale als einen Lösungsweg anzusprechen, scheint wie den Teufel mit Beelzebub austreiben zu wollen. Denn ist es nicht gerade das Digitale der elektronischen Medien, das den ganzen Schlamassel verursacht hat? Das ist sicherlich nicht einfach von der Hand zu weisen, aber eben dieses Digitale ist doch auch eine unhintergehbare Bedingung moderner Verfasstheit, ohne die eigentlich gar nichts mehr zu denken ist. Gerade die Diskussionen der letzten Jahre haben die universellen Determinismen beschrieben, die die Computerisierung des Alltags auf allen Ebenen kennzeichnen und die häufig mit dem aus der Wirtschaftswissenschaft stammenden Begriff des Disruptiven beschrieben werden. Die Konstellation entbehrt nicht einer gewissen Paradoxie: Der Agent von Zerstörung und Transformation wird in diesem Buch auch als Gestalter eingeführt. Aber es spricht eben vieles dafür, dass hinter diese Entwicklung nicht mehr zurückzugehen ist und dass nur im Ausgang von der neuen Situation und nicht gegen sie agiert werden kann.

Geht man von dieser allgemeinen wieder auf die konkrete Ebene des Museums herunter, lassen sich die Paradoxien aber noch vermehren. Das Kunstwerk wie jeder andere im Museum ausgestellte Gegenstand wirkt durch seine materielle Existenz. In den Spuren seines Gebrauches ragt die Vergangenheit, zuweilen eine Jahrtausende zurückliegende Vergangenheit, in die Gegenwart hinein und verbreitet ihre geheimnisvolle Kraft. „Präsenz“ ist ein Begriff, der für diese zauberische Gegenwart häufig verwendet wird, von „Aura“ ist die Rede und von „Authentizität“. Was bleibt davon in der digitalen Reproduktion übrig, selbst wenn diese inzwischen als dreidimensionale so gut geworden ist, dass selbst Fachleute bei reiner Inaugenscheinnahme sie nicht mehr vom Original unterscheiden können? Warum soll ausgerechnet der Ort, an dem das Eigentliche gefeiert wird und in das Numinose und Heilige hineinreichen kann, von der „sekundären Welt“ der digitalen Simulationsmedien überlagert werden, gegen die es nicht nur nach Botho Strauß zu rebellieren gilt?xi

Warum soll das Museum mit seinen Kunstwerken, die zur längeren Betrachtung es gerade einlädt, mit den elektronischen Medien kurzgeschlossen werden, deren Mitverantwortung für die Tatsache unwiderlegbar sein dürfte, dass die Aufmerksamkeitsspanne des Durchschnittsbürgers radikal gesunken ist? Eine der einflussreichsten Museums-Philosophien der letzten Jahrzehnte hat dessen Erfolg mit einer Kompensationsfunktion erklärt: Gegenüber der massiven Beschleunigung von Wirklichkeitserfahrung in der Moderne verankert das Museum in einer stillgestellten Vergangenheit, bringt Stetigkeit in ein Leben, das sonst in der permanenten Veränderung durchdreht. Da soll ausgerechnet das Digitale, der Agent von Transformation und Disruption, die Museumserfahrung vertiefen?

Andererseits ist gerade eine jüngere Generation von Museumsdirektoren dabei, die im Auratischen erstarrte Museumswirklichkeit gründlich zu durchlüften und in einem sozialen Kontext zu erden. Bei Matthias Mühling und Yilmaz Dziewior, Leiter des Münchener Lenbachhauses bzw. des Kölner Museum Ludwig, firmiert das unter dem Begriff der "Dekolonisierung des Museums". Sie gehen aus von dem zuletzt im Anschluss an den Fall Gurlitt und die Planungen zum Humboldt-Forum in Berlin intensiv verhandelten Phänomen der Raubkunst, die neben der NS- vor allem eine koloniale Dimension hat, und die vor allem gezeigt hat, dass Kunstwerke nicht einfach nur in kontextloser Schönheit erstrahlen, sondern zuweilen schlicht und ergreifend illegaler Besitz sind. Eingeschlossen in diese Dekolonialisierung sind aber auch Ansätze zu einer Relativierung traditioneller Hierarchien, seien es solche von Kennern und Laien, Zentren und Randbereichen künstlerischer Kreativität oder kanonisierten und neuen Diskursen.

V

Die hier kurz umrissene, unübersichtliche und auch paradoxe Situation ist Anlass genug, den Gegenstand etwas genauer unter die Lupe zu nehmen, um zu sehen, welchen Beitrag das Digitale gerade auch in den zuletzt genannten Zusammenhängen leisten kann. In den folgenden Kapiteln will ich an einer Reihe von ausgewählten Museen demonstrieren, was für höchst unterschiedliche Praktiken hier eingeführt wurden, aber auch eine Vorstellung von dem vermitteln, was in dem Feld in den nächsten Jahren zu erwarten ist. Es soll eine Rundreise durch ein faszinierendes Kapitel zeitgenössischer Kulturvermittlung und -erarbeitung präsentiert werden, das vielleicht den größten Einschnitt in der Phänomenologie einer Institution seit ihren Anfängen vor ca. 250 Jahren darstellt. Dabei will ich vor abstrusen Beispielen genauso wenig zurückschrecken wie vor radikalen. Ganz ausschließlich fokussiert wird dabei auf Kunstmuseen, die im Vergleich zu ihrem Gesamtanteil (ca. ein Neuntel) einen relativ hohen Besucheranteil haben (ca. ein Sechstel), weil sich andernorts die Sachlage doch wieder ganz anders darstellt. Es sollen weniger Vorbilder zur Nachahmung sein, sondern vielmehr Ideen, die kritisch zu diskutieren sind, zumal das Kunstmuseum sich etwa gegenüber dem historischen (Besucheranteil fast ein Fünftel) und naturwissenschaftlichen Museum (Besucheranteil mehr als ein Fünftel) zunächst einmal eher weniger für eine digitale Begleitung zu eignen scheint. Vor allem ist beabsichtigt, die Zukunftsfähigkeit einer Gedächtnisinstitution zu diskutieren, welche in ihrer bisherigen Erscheinungsweise zuweilen allzu altbacken wirkt und, wie gesagt, in Gefahr steht, nur noch von den Älteren frequentiert zu werden. Die USA sind zum Mekka der digital aufgerüsteten Museen geworden, auch wenn inzwischen vor allem Institute außerhalb des euro-amerikanischen Raumes immer mehr aufholen. Wenn in Europa vor allem solche Länder in diesem Bereich repräsentiert sind, die ebenfalls tendenziell einem neoliberalen Grundkonsens verpflichtet sind – die Niederlande und Großbritannien –, dann gibt das manchen Kritikern Anlass, diese Entwicklung als eine Verschärfung des Einflusses der Kulturindustrie zu deuten. Das Museum als ein Schatzhaus widerständiger und unvereinnehmbarer Werkautonomie werde ersetzt durch ein Modell, das dem Gesetz der Nachfrage gehorche und leichte Kost zur Unterhaltung serviere. Leser und Leserinnen werden selber entscheiden, ob an diesem Vorwurf etwas dran ist.

Beginnen will ich also mit den Vereinigten Staaten und hier mit New York, in dem sich alteuropäischer Kunstreichtum mit technologischer Avanciertheit der neuen Welt verbinden. Dass ich hier eine derartige Anhäufung von Museen am gleichen Ort vornehme, hat auch mit meiner direkten Kenntnis der Institutionen zu tun, ansonsten wäre sicherlich zu überlegen gewesen, ob auch Museen wie dem in Cleveland ein eigenes Kapitel hätte gewidmet werden müssen. Dass aber überhaupt die USA so im Vordergrund stehen, ist in der Sache begründet, denn nirgendwo sonst auf der Welt nähert man sich so unvoreingenommen und gleichzeitig verständnisvoll geheiligten Kulturgütern wie der Hochkunst.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Heidelberg University Publishing

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