Vom Nachttisch geräumt

Mehrdeutigkeiten

Von Arno Widmann
24.04.2017. Keine Chronologie, aber viel Stoff für eine Weltkunst im eigenen Kopf bietet der Bildband "Body of Art"
In "Body of Art" geht es um den menschlichen Körper in der Kunst. Dass dabei immer auch etwas über den Körper der Kunst gesagt wird - darauf möchte der Titel hinweisen. In zehn Kapiteln wird gezeigt, was die - vor allem europäische - Kunstgeschichte zu bieten hat: "Schönheit", "Identität", "Macht", "Religion und Glaube", "Geschlecht und Gender", "Verkörpertes Gefühl", "Grenzen des Körpers", "Körper und Raum", "Der elende Körper", "Der abwesende Körper". Schon ohne einen Blick in das Buch zu werfen, weiß man, dass die Kategorien nicht klar zu trennen sein werden. Ein schöner Körper ist ein schöner Körper im Raum und ein gefühlloser Körper wird kein wirklich schöner sein.

Die eigentliche Herausforderung des Bandes liegt in dem konsequenten Verzicht auf Chronologie. Er beginnt mit dem "Porträt einer Negerin" von Marie-Guillemine Benoist aus dem Jahre 1800. Dann folgt Botticellis "Geburt der Venus", enstanden 1486. Das hindert die Herausgeberin und Autorin Jennifer Blessing nicht daran, die Körperansichten immer wieder sehr genau zu datieren. So erinnert sie daran, dass das den Band einleitende Porträt der schwarzen Dienerin sechs Jahre nach der Abschaffung der Sklaverei entstand und zwei Jahre vor ihrer Wiedereinführung durch Napoleon. Das Bild hält einen kurzen Moment fest, in dem eine Begegnung beider Frauen möglich war. Eine Begegnung, die nicht erst einmal den gesellschaftlichen Abstand festhalten musste, bevor sie das Individuum sehen konnte. Die Malerin war Marie-Guillemine Benoist (1768-1826). Sie hatte ihr Handwerk bei Élisabeth Vigée Le Brun und Jacques-Louis David gelernt. 1793 heiratete sie den Vincent Pierre-Benoist, Graf von Benoist (1758-1834). Während der Französischen Revolution floh das Ehepaar auf die Karibikinsel Guadeloupe. Mit der Wiederherstellung der Monarchie  bekam sie eine staatliche Rente zugesprochen und ihr Ehemann wurde zum Mitglied des Conseil d'État ernannt. Ihr Porträt der schwarzen Dienerin gilt Wikipedia als ein "Symbol der weiblichen Emanzipation und der Menschenrechte". Maler malen oft mehr als sie sehen. So wie Schriftsteller oft - Marx war das an Balzac aufgefallen - schreibend ihrer politischen Tendenz widersprechen. Die Künste entwickeln nicht nur eigene Wege. Sie fördern im Betrachter und im Autor immer wieder Seiten, die beide nicht von sich kannten. Das gehört eben zum "Körper der Kunst", der gewissermaßen seinen eigenen Blutkreislauf hat.


Marie-Guillemine Benoist, Portrait d'une negresse, 1800, Musée du Louvre

Von der Fülle des Bandes macht man sich keine Vorstellung. Selbst wenn man weiß, dass das Buch vierhundertvierzig farbige Abbildungen in erstklassiger Qualität bringt. Wäre das hübsch chronologisch oder thematisch geordnet, man wäre nicht so überwältigt. Dazu ist schließlich Ordnung da. Es tut aber immer mal gut, aus den Ordnungen auszuscheren. So kann man wieder mit dem Staunen beginnen. Mit der Verblüffung über die zahllosen Weisen, den Körper abzubilden und es zugleich nicht zu tun. Natürlich fehlt Georgia O'Keefe (1887-1986) nicht. Diesmal keine Blumengenitalien, die aussehen wie menschliche, sondern ein Bild aus der Zeit um 1923, das nur im Titel die Abstraktion feiert: "Grey Lines with Black, Blue and Yellow". O'Keefe hat, darauf weist Jennifer Blessing hin, die sexuellen Interpretationen ihrer Bilder stets abgelehnt. Als in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts - jetzt auch schon bald ein halbes Jahrhundert her - Feministinnen sie feierten als eine der ihren, lehnte O'Keefe das entsetzt ab. Der ahnungslose Betrachter fragt sich allerdings, was an diesen Bildern dran sein soll, wenn sie nicht eine "gorgeously vibrant celebration of womanhood" (so Blessing) sind? Andererseits beziehen sie ihren hohen Reiz natürlich aus der Tatsache, dass sie zwischen den Bedeutungen vibrieren. So eindeutig sie sind, so sehr sind sie es auch nicht.

Tracey Emin, geboren 1963, ist vertreten mit "My Bed". 1998, als sie nach dem Ende einer Beziehung vier Tage das Bett nicht verließ, stellte sie dieses Bett - oder eine Kopie? - aus. Dokument eines psycho-physischen Zusammenbruchs. Wie immer, wenn es sehr persönlich wird, ist es mit einem Schlag ganz allgemein. Es hat etwas Befreiendes zu sehen, dass auch andere zusammenbrechen, die einfachsten Regeln des Überlebens nicht befolgen können. Kunst ist auch eine Selbsthilfegruppe, in der man einander erzählt, was man nicht schafft. Während sonst meist - auch in der Kunst - nur von dem die Rede ist, was man geleistet hat. Der Trick, die Werke ungeordnet neben einander zu stellen, rückt sie alle gleich nah an den Betrachter heran. Er sieht sie als Zeitgenossen. Das ist naiv, aber es hilft auch, die Bilder aus dem Zusammenhang, in den sie regional und chronologisch eingespannt sind, zu befreien und sie nutzbar zu machen für jene Weltkunst, die ein jeder Betrachter sich in seinem Kopf selbst schafft. Ein Rezensent pries das Buch mit den Worten. "I don't think about this book as an art book... It's a book that uses art to talk about what it means to be human."

Body of Art, Phaidon Verlag, London 2015, 440 Seiten, 440 Abbildungen, 49,95 Euro.