Vom Nachttisch geräumt

Aufgeschlitzt und ausgesaugt

Von Arno Widmann
24.04.2017. Ein Moospolster erwacht, eine Monsterparade am Meeresgrund - "Die unsichtbaren Welten mikroskopisch kleiner Tiere" ist ein wunderbares Geschenk für Großväter.
Die 1981 geborene Hélène Rajcak und Damien Laverdunt, geboren 1978, sind ein eingespieltes Team. Die Grafiker, Illustratoren und Autoren haben mir vor ein paar Jahren mit "Unglaubliche Geschichten von ausgestorbenen Tieren" großes Vergnügen bereitet. Jetzt liegt vor mir der Band "Die unsichtbaren Welten mikroskopisch kleiner Tiere". Er ist noch schöner. Er gefällt mir so sehr, dass ich nicht weiß, ob ich ihn nicht doch lieber behalten als meinem siebenjährigen Enkel zuschicken werde. Der Verlag unterstützt mich in meinem Egoismus. Das Buch sei, so schreibt er, erst für Kinder ab 9.

Die beiden Zeichner stellen ihre Winzlinge nach den Lebensräumen dar, in denen sie sich herumtreiben. So heißen die Kapitel des Buches dann: "Das große Wasserballett des Planktons", "Das geheime Strandleben", Monsterparade am Meeresgrund", "Mini-Dschungel im Bett", "Angriff der Blutsauger und Hautfresser", "Invasion der Mini-Vielfraße in der Küche", "Die riesige Fabrik im Waldboden", "Ein Moospolster erwacht", "Munteres Leben in stillen Gewässern" und "Der heldenhafte Kampf des kleinen Flussvölkchens". Danach folgt ein kleines Lexikon, eine kurze Geschichte der Entwicklung des Mikroskops und eine knappe Einweisung in das "Fangen" der mikroskopisch kleinen Lebewesen. Die ausklappbaren Tafeln zeigen zum Beispiel in schön gezeichneten Bildern Brotkäfer und seine Larven, unterschiedlichste Milben, Staub- und Bücherläuse und Pseudoskorpione. Auf jeder Tafel steht unten ein Maßstab, so dass ich eine Vorstellung von der Größe dieser unbekannten Hausbewohner bekomme. Die Tierchen tragen eine Nummer und am linken Rande der Ausklapptafel wird erklärt, was es mit den Tierchen auf sich hat.



Die Mutter meines Sohnes hätte mir, ich weiß nicht wie lange, verwehrt, ihm diesen Band zu schenken. Gar zu sehr gleicht das Leben hier einem Horrorfilm. Schon die immensen Größenunterschiede sind die einer anderen Welt. Und wie die Tierchen aussehen! Zum Einschlafen ist es vielleicht wirklich nicht richtig, seinem Kind vorzulesen: "Gerade seid ihr schlafen gegangen und habt das Licht ausgemacht. Während ihr einschlaft, wird ein ganzer Miniaturdschungel in eurem Bett lebendig. In der Stille des Schlafzimmers wachen die Staubmilben der Art Dermatophagoides pteronyssinus auf, die durch die Wärme eurer Körper und die Feuchtigkeit eures Schweißes munter geworden sind. In den Fasern eurer Bettwäsche, mitten in einem Wald von mikroskopischen Pilzen, machen sich ganze Herden von Milben auf, um nach Hautschuppen zu suchen, die ihr Leibgericht sind. Doch ihre friedliche Mahlzeit wird schon bald gestört, als schreckliche Raubtiere auftauchen: Getreideraubmilben. Die Staubmilben stieben auseinander, doch die, die nicht schnell genug fliehen, werden von den großen klauenbewehrten Zangen ihrer Verfolger aufgeschlitzt und ausgesaugt."

Wer wird sich nach dieser Lektüre noch ein friedlich in seinem Bett liegendes Kind ansehen können, ohne sich vorzustellen, was sich um es herum und wie jeder, der weiterliest, weiß auch in ihm alles an mörderischem Leben regt, während es ein Bild des Friedens abgibt? Krieg oder Frieden ist eine Frage der Objektiveinstellung.

Hélène Rajcak, Damien Laverdunt: Die unsichtbaren Welten mikroskopisch kleiner Tiere, Verlagshaus Jacoby Stuart, Berlin 2017, aus dem Französischen von Edmund Jacoby, 36 Seiten | 25 x 32 cm, geb., durchgehend farbig mit 10 Ausklappseiten, 22 Euro.