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Neue Zürcher Zeitung

1 Presseschau-Absatz

Magazinrundschau vom 03.01.2017 - Neue Zürcher Zeitung

In einem sehr schönen Essay schreibt Andreas Breitenstein über Imre Kertesz und dessen letztes Buch "Der Betrachter. Aufzeichnungen 1991 bis 2001". In diesen Zeitraum fällt auch die Phase, in der Kertesz, der mit dem "Roman eines Schicksallosen" unvermutet berühmt geworden war, feststellte, dass Glück seine Sache nicht war - und damit seinen Landsleuten näher stand als man annimmt: "Bereits 1997, in 'Ich ein anderer', hatte er über diese Lebenswende eine erzählerische Chronik verfasst - in der bei aller Skepsis ein tiefes glückliches Durchatmen zum Ausdruck kam. Es offenbarte sich eine neue Zugewandtheit zum Lebendigen, hinter der mehr als andere seine zweite Frau Magda, eine ungarischstämmige US-Amerikanerin, stand, deren Vitalität nach Albinas Krebstod 1995 in ihm den Dandy und Lebemann wachküsste. Man muss den 'Betrachter', der nun in der profunden Übersetzung von Heike Flemming und Lacy Kornitzer die Lücke der Tagebücher zwischen 1991 und 2001 schließt, als düsteren Kontrapunkt zu dieser Leichtigkeit des Seins lesen, als paradoxale Litanei eines aus lebenslanger Haft entlassenen Sträflings, der sich nach dem Kerker zurückzusehnen beginnt, weil er erkennt, dass er der Ort war, der ihm fürs Leben bestimmt war. Dabei geht es Imre Kertész nicht anders als seinen vom Realsozialismus traumatisierten ungarischen Landsleuten, die sich - wie er es selber in ein starkes Bild fasst -, nachdem sie ins gleißende Licht der Sonne getreten sind, ins Dunkle des Waldes zurücksehnen, 'in dem sie ihr zeitweiliges Zuhause gefunden und gelernt haben, mit der Angst zu leben, sich von Wurzeln und Beeren zu nähren'."