Intervention

Tendenz zum Heraushalten

Von Richard Herzinger
17.03.2020. Unter den Flüchtlingen, die gegenwärtig an die EU-Außengrenze drängen, befinden sich neben Syrern und Irakern in großer Zahl auch Afghanen. Sie sind die Opfer einer auch von deutschen Linken bevorzugten Politik des Rückzugs.
Unter den Flüchtlingen, die gegenwärtig an die EU-Außengrenze drängen, befinden sich neben Syrern und Irakern in großer Zahl auch Afghanen. Sie flüchten in erster Linie vor der katastrophalen Sicherheitslage in ihrem Land, die hauptsächlich durch den Terror der vorrückenden Taliban verursacht wird. Und der Ansturm auf Europa wird in dem Maße zunehmen, wie die totalitären islamischen Fundamentalisten die Kontrolle über das ganze Land zurückgewinnen.

So kehrt nun, neben Syrien, auch das weitgehend verdrängte Problem Afghanistan in Gestalt von immer mehr Flüchtlingen ins europäische Bewusstsein zurück. In Idlib überlässt der Westen fast eine Million Zivilisten, die von Putins Russland, seinem Vasallen Assad und seinem Verbündeten Iran in die Flucht gebombt wurden, ihrem Schicksal. Ungestört können die Autokraten Putin und Erdogan ihre Einflusssphären in Syrien unter sich aufteilen - und nebenbei entscheiden, ob und wann sie Flüchtlinge nach Europa strömen lassen, in der Absicht, es zu destabilisieren.

In Afghanistan aber, wo der Westen noch präsent ist, schickt er sich an, das Feld zu räumen und damit die letzte Hoffnung vieler Afghanen auf ein Minimum an Sicherheit zerplatzen zu lassen.Dabei ebnet das jüngst abgeschlossene Friedensabkommen zwischen den USA und den Taliban, das die Ankündigung eines  schrittweisen Rückzugs der US-Truppen beinhaltet, den islamistischen Extremisten den Rückweg zur Macht. Denn ohne die Präsenz von US-Truppen wird sich die Regierung in Kabul auf Dauer nicht gegen die Taliban behaupten können. Parallelen drängen sich auf zum Friedensvertrag, den die USA Anfang 1973 mit Nordvietnam schlossen, und der eine Machtteilung zwischen der Regierung in Saigon und den Vietcong vorsah. Es dauerte nur gut zwei Jahre, bis die kommunistischen Truppen das ganze Land erobert hatten. Die Folge war die Fluchtbewegung von 1, 5 Millionen Boatpeople, die der Willkürherrschaft des kommunistischen Totalitarismus über das offene Meer zu entkommen versuchten.

Die harte europäische Reaktion auf den jüngsten Flüchtlingsansturm vermittelt jedoch den Eindruck, das Schicksal der Afghanen, denen wir selbst einst militärischen Schutz und Unterstützung für eine bessere Zukunft versprochen hatten, gehe uns nichts an. Dabei haben die Europäer, und namentlich Deutschland, lange vor den USA den Rückzug vom Hindukusch vorangetrieben. So hat sich die deutsche Bundeswehr schon vor Jahren aus Kampfeinsätzen verabschiedet und es den USA überlassen, den Kampf weiterzuführen. Die knapp 1.300 am Hindukusch verbliebenen deutschen Soldaten beschränken sich nun im Wesentlichen darauf, afghanische Sicherheitskräfte auszubilden - in der Hoffnung, diese würden irgendwann in der Lage sein, ihr Land selbständig zu verteidigen. Gerne redet man sich dabei auch ein, die Taliban hätten sich doch mittlerweile "gemäßigt".

In der Frage, was mit den Flüchtlingen geschehen soll und ob und in welchem Maß sich das demokratische Europa für ihr Schicksal mitverantwortlich zu fühlen hat, bündeln sich Grundsatzfragen nach dem Selbstverständnis der westlichen demokratischen Zivilisation. Jedem müsste inzwischen klar sein, dass es auf Dauer nicht möglich ist, Freiheit, Recht und Wohlstand in den westlichen Demokratien zu erhalten, wenn in anderen Weltteilen die zivile Ordnung zusammenbricht und elementare Menschenrechte und Menschenwürde nichts mehr gelten.

Das Pendel der öffentlichen Meinung in den westlichen Demokratien ist in den vergangenen Jahren jedoch drastisch in Richtung der Tendenz zum Heraushalten aus scheinbar fernen Konflikten und zur Abschottung vor ihren Folgewirkungen umgeschlagen. Die Erfahrung mit Interventionen wie der in Afghanistan hat zu dieser heftigen Gegenreaktion beigetragen.Und tatsächlich ist der Ertrag von fast zwei Jahrzehnten militärischer Präsenz in Afghanistan frustrierend, misst man ihn an den hohen Erwartungen, mit denen er anfangs befrachtet wurde. Doch dass dort heute überhaupt so etwas wie freie Wahlen stattfinden, dass Frauen Schulen und Universitäten besuchen können und sich in den Städten Ansätze einer mittelständischen Zivilgesellschaft gebildet haben, sind Erfolge, die keinesfalls gering geschätzt werden dürfen.

Geben die westlichen Demokratien diese Errungenschaften preis, machen sie sich sie dadurch noch anfälliger für die Aggressionsgelüste ihrer Feinde.Wo sich der Westen zurückzieht, füllen andere Mächte, die von ganz anderen Zielen und Werten geleitet werden als den westlichen, das Vakuum. Und in Gestalt von Flüchtlingsmassen kommt das Problem dann doch zu uns zurück.

Aber nicht alle, die sich über die restriktive westliche Flüchtlingspolitik empören, stehen automatisch moralisch besser da. Diejenigen - meist links positionierten - Kräfte, die eine unbegrenzte Aufnahme von Flüchtlingen fordern, sind oft die Ersten, die gegen militärische Interventionen zur Befriedung mörderischer Konflikte oder zur Verhinderung von Genoziden Sturm laufen. Aber auch andere Formen westlicher Einflussnahme, etwa mittels Sanktionen, werden von ihnen schnell als "imperialistische Einmischung"
denunziert.

Die westliche Öffentlichkeit muss begreifen, dass der globale Vormarsch des neuen Autoritarismus die direkte Folge des Rückzugs von unserem Anspruch ist, die Welt im Sinne liberaler Prinzipien zu gestalten. Gewiss, der Westen kann nicht überall auf der Welt einschreiten und auf einen Schlag humane Verhältnisse durchsetzen. Ebenso offensichtlich ist, dass er nicht allen Verfolgten dieser Welt Zuflucht bieten kann. 

Doch das verpflichtet ihn - auch im eigenen existenziellen Interesse - umso mehr dazu, offensiv für eine internationale Ordnung einzutreten, in der humanitäre Mindeststandards gewährleistet sind. Der Weg dorthin mag sehr lang und von frustrierenden Rückschlägen gekennzeichnet sein. Doch nur er bietet uns Aussicht auf Schutz vor den weltweiten Kräften der Destruktion.

Richard Herzinger

Der Autor ist Korrespondent für Politik und Gesellschaft der Welt und Welt am Sonntag. Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. In der Reihe "Intervention" möchten wir künftig kompakte, meinungsstarke Stücke zu politischen oder kulturellen Themen veröffentlichen. Hier der Link zur Originalkolumne. D.Red.